Nichts Weißes: Roman (German Edition)
von dem er glaubt, dass sie es gesagt habe, sondern auf das, was sie gesagt hat. »Du suchst nach einem Prinzip«, hat Marleen gesagt. Er überlegt.
»Sofern du nicht irgendeins meinst, das wäre ja leicht zu haben. So was wie ›Gott ist tot‹, oder ›Wir müssen die Welt nicht verstehen, sondern sie verändern‹. Behavioristisch, ›Man muss seine Grenzen kennen.‹ Oder: ›Man muss seine Grenzen kennenlernen‹, das wäre dann das Gegenteil.«
»Das Gegenteil von was?«
»Seine Grenzen zu kennen.«
Marleen lacht und beißt sich dabei auf die Unterlippe.
»Also nicht irgendeins …« Sie vermeidet das Wort »Prinzip«, um zu prüfen, ob er wirklich bei der Sache ist, so wie seine Augen, die nicht durch sie hindurchsehen und auch nicht gaffen und vielleicht nicht einmal etwas wissen von der ihnen eigenen Güte.
»Nicht ein Prinzip, Marleen. Es geht um die Methode«, sagt er wieder. Er spricht jede Silbe, Me-to-dä, ohne sich dabei anzustrengen, sein »r« hat etwas von einer stumpfen Kante, einer Naht. Sie könnte ihn jetzt fragen, wo er herkommt, aber genauso gut könnte sie ihm sagen, wie sehr sein dunkles Haar ihr gefällt. Tut sie aber nicht.
Franz holt weit aus. »In Göttingen gibt es einen Dozenten, der mit uns Quellen liest. Das ist neu. Früher wurde die Geschichte von Professoren ausgelegt, und die Quellen waren etwas für … Doktoranden mindestens, glaube ich. Wir lesen im handgeschriebenen Protokoll eines Zunftmeisters, vor dem Buchdruck. Aber was heißt schon lesen. Man muss das erst einmal entziffern, also transkribieren, und das Deutsche vom Lateinischen trennen. Das Lateinische ist leichter in heutiges Deutsch zu übertragen als altes Deutsch, das nicht mehr Mittelhochdeutsch ist, aber auch noch nicht Hochdeutsch, ein Kauderwelsch. Wir sind nur zu fünft. Die anderen kämpfen mit den Buchstaben, mir fällt das Transkribieren leicht. Wenn wir wissen, was da steht – aber das heißt erst mal nur, dass wir es mehr oder weniger in heutiger Sprache wiedergeben können –, sind wir noch lange nicht am Ziel. Die neue Geschichtstheorie in Göttingen geht davon aus, dass jeder Text auf Auslassungen beruht, zum Beispiel, weil ein Schreiber die Zensur fürchten musste. Halb steht es also da, halb nicht. ›Nicht buchstäblich denken‹, ermahnt uns der Dozent immer wieder.«
Marleen denkt, jetzt ist er wieder bei dem Bibelvergleich. Er vergleicht Methoden, die unterschiedliche Zwecke haben. Aber es genügt ihr, für den Moment zu verstehen, was er meint.
»Also das Gegenteil von Weingart«, sagt sie, ihm die Brücke bauend.
»Das denke ich auch.« Selbstvergessen, bewegt von seinem Bericht und wie ihm der gelungen ist, schiebt er mit dem Ellbogen sein Tablett krachend in das andere. Er entschuldigt sich nicht, sondern betrachtet geistesabwesend die abgegessenen Teller und ordnet ihr Besteck zu seinem, dann das Geschirr, die Milchpackung mit dem Strohhalm; er stapelt das volle Tablett auf das leere.
Seltsam, dass er seine typografischen Blätter weggibt. Ob sie es ihm nicht wert sind, aufgehoben zu werden, oder sind es Geschenke? Ende November jedenfalls besitzt Marleen drei davon, die Miniatur, das Monument und »in Perspektive«. Nur Franz ist darauf gekommen, den Buchstaben nicht von Hand darzustellen, sondern die »Perspektive« in der Dunkelkammer dreidimensional zu erzeugen: Sein »m« hat er negativ auf Folie kopiert, diese in die Negativbühne des Vergrößerers geschoben. Zunächst hatte er das Fotopapier im gelbgrünen Licht des Labors zu einem Bogen gespannt, zu einem Würfel gefaltet und so weiter und unter dem Licht der Projektion überprüft, wie der Buchstabe sich auf dem Objekt darstellte. Schließlich entschied er sich für ein Rechteck mit ausgestellten Seitenflächen, wie die obere Hälfte eines Sargs. Das »m« hatte, in seiner Projektion, einen schweren Rückenpanzer bekommen, seine Beinchen aber schwebten knapp über dem Boden, nicht ganz scharf, was lustig aussah. Licht aus, Rotfilter weg, belichtet. Das Objekt auseinandergefaltet, das Fotopapier entwickelt, gestoppt, fixiert, gewässert und getrocknet, das Typo-Foto beiTageslicht wieder zum Objekt gefaltet. Sogar Weingart war perplex.
Marleen hat ihre Blätter und die von Franz, auch sein »m« »in Perspektive«, im kleinen, leeren Zimmer an die Wand genagelt – me, me, me –, die Bildergruppe von links und rechts beleuchtet, und am Abend sitzt sie davor, allein, und versucht, sich einen Reim darauf zu machen. Denn
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