Nichts Weißes: Roman (German Edition)
nicht allein. Es gibt etliche, die zweifeln, ob man das ernst nehmen sollte, Weingarts Schattentheater der Buchstaben, diese Serifenalchemie. Sie zweifeln an den Aufgaben, an ihrer Menge, an den Vorgaben, an den durchgewinkten Abgaben, an den Begründungen, am Zweck des Ganzen und an sich selbst. Franziskus Maria Orth ist ohnehin nur halb dabei. Nach Kassel pendelt er von Göttingen aus, wo er eingeschrieben ist für Geschichte und »Pseudonebenfächer«, er interessiert sich für Quellen und deren Deutung, Handschriften und Abschriften, »wer überhaupt die Geschichte schreibt«. Vielleicht ist Göttingen zu ernst und Kassel zu leicht.
»Mich interessieren nur Methoden«, sagt Franz.
»Methoden sind Mittel zum Zweck«, sagt Marleen.
»Das stimmt. Nur, den einen und den anderen Zweck kann man nicht vergleichen. Methoden vielleicht schon.«
Na also, denkt Marleen, Typo ist nicht Lesen, und Lesen ist nicht Typo. Das sagt sie aber nicht. Sie will keine Debatte und erst recht keinen Zank. Sie berührt ihn an der Schulter, als sie sagt:
»Du willst also keine Filme drehen, keine Schriften zeichnen und Plakate machen auch nicht. Du kommst nur nach Kassel, um Methoden kennenzulernen.«
»Genau.«
Schade, dass er nicht sagt: Wegen dir. Die Grübelei von Franz ist ein bisschen anstrengend. Aber lieber ein Grüblerals ein Sprücheklopfer. Sie mag, wie er spricht, dieses gewisse Zögern. Man merkt, dass er sagt, was er denkt, es ist weder vorbereitet noch nachgeplappert. Manchmal hört sie, was er sagt, versteht es aber nicht, weil sie abgelenkt ist vom Licht in seinen Augen. Das legt sich in ihr nieder, das trägt sie in sich, Tag und Nacht. Wenn er weggeht, schaut sie ihm nach, wegen dieses Gangs, der bestimmter ist als der Gang seiner Gedanken, er geht wie …
»… ein Pferd«, denkt sie, aber verbietet es sich sogleich, will es sich nicht vorgestellt haben. Sie wundert sich am Morgen, allein in der grünen Küche, über den Traum,
»… ein Pferd, ganz allein und nackt in einer trockenen Landschaft, von hinten gesehen, das Fell glänzend, wie es sich entfernt, aber auch als es ganz klein ist, am Horizont, kann man seine Proportionen noch erkennen, seine Bewegung …«
Cristina würde sie davon erzählen, vielleicht, und Cristina würde lachen und fragen,
»Wie – ein Pferd – nackt?!«
Marleen, mit Gänsehaut: »Na eben unbeschlagen. Man hört es nicht. Und kein Sattel und kein Zaumzeug …«
»Du bist also nicht auf ihm geritten?«
Und weil es Cristina wäre, würde sie zugeben, dass das Pferd im Traum später kein Pferd mehr war. Es war verschwunden am Horizont und hat sich dann – unlogisch, klar – verwandelt, und die Frage, ob sie auf ihm »geritten« wäre, war ganz klar zu beantworten: »Doch.« Bei der Gelegenheit würde sie die Schwester fragen,
»Sag mal, wie war das eigentlich, als wir angefangen haben, uns über Jungs Gedanken zu machen …«
»Gedanken!«
»Haben wir uns das eigentlich so richtig vorgestellt, mit allen Details, knallhart …«
»Knallhart was?«
»Na, du weißt schon.« An diesem Morgen, lautlos mit sich selbst sprechend, erscheint Marleen das schale Grün ihrer Frühstücksküche wie eine blühende Wiese. Dieses Franzpferd hat sich vor alles andere geschoben, vor die Erinnerung und die Wirklichkeit, vor die kümmerlichen Erfahrungen, die man gemacht hat, weil es erwartet wurde und man hoffte, sich hinterher besser zu fühlen oder jedenfalls nicht mehr ganz so dumm. Ein gewisser Vorteil jetzt, dass es darum nicht mehr geht. Dein Leib ist der Tempel Gottes, oder wie hieß das noch mal.
Es sind zwei Welten, die Nacht und der Tag, und der Kanal, der sie verbindet, obliegt der Obhut eines umsichtigen Schleusenwärters. Sonst müsste doch Marleen, als sie Franziskus wiedersieht, ganz schrecklich erröten, was nicht der Fall ist. Sie sitzen in der zur Karlsaue hin verglasten Mensa, die abgegessenen Teller auf ihren Tabletts. Hier tickt sie, die Uhr der Freundschaft, denn alle springen immer gleich auf, wenn sie gegessen haben. Die beiden sitzen über Eck, die Tabletts so weit fortgeschoben, dass sie sich berühren, und haben ihre Köpfe spiegelbildlich in einer Hand versenkt. Sie flüstern fast, obwohl es laut ist. Es fällt Marleen nicht leicht, mit ihm zu sprechen, weil er jedes Wort auf die Goldwaage legt. Und was er wiegt, ist Blech. Andererseits ist Franziskus der erste Mann – der erste Mann im gleichen Alter –, der ihr wirklich zuhört. Der nicht auf das antwortet,
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