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Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Titel: Nichts Weißes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulf Erdmann Ziegler
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schrecklich?«
    »Na ja. Ich find’ schon.«
    Esmeralda klapperte eine Weile mit ihren Buchstaben.
    »Bist du katholisch?«, fragte sie plötzlich.
    »Ja«, antwortete Marleen, »das heißt, eigentlich nicht.«
    »Was?«
    Marleen überlegte einen Moment.
    »Ja, ich bin katholisch.«
    »Sag mal, Marleen.« Die war dabei, den Satz mit der Kolumnenschnur zu fixieren. »Musst du wohl auch Jungenfrau bleiben?«
    Marleen musste lachen, und dabei rutschte ihr der Block über den Tischrand, polterte zu Boden, Buchstabensalat.
    Esmeralda bezog ihr Lachen auf das Ungeschick beim Fixieren; sie wartete ab. Marleen fing sich,
    »Jungfrau bleiben. Nicht Jungenfrau!«
    »Ach so!«
    Marleen war außer Sichtweite, die Gevierte sammelnd unter der Werkbank. Sie stellte sich vor, Esmeralda säße in einem Käfig, und nur sie, Marleen, könne die Tür öffnen, nur sie allein. Es gibt aber auch Tiere, dachte Marleen, die in Freiheit verhungern.
    Sämtliche Elemente wieder auf der Werkbank, sortierte Marleen sie Stück für Stück in den Setzkasten zurück.
    »Entschuldigung«, raunte Esmeralda.
    »Nein, nein, du musst dich … Esmeralda, warum willst du Jungfrau bleiben?«
    »Ich will nicht, aber ich soll.«
    »Warum?«
    »Für den Vater.«
    »Für den Vater?«
    Plötzlich großes Gelächter, Gurgeln. Die Arbeit stand still. Die Frauen sahen einander an, Tränen in den Augen, Marleens Nase der Zeiger in Esmeraldas Zukunft.

Altstadt
    Erst jetzt fällt ihr auf, dass der Ausdruck »Karnickelschein« etwas Unanständiges meint, so als hätten sich ihre Eltern unkontrolliert vermehrt. Sie legt die Bescheinigung über die »kinderreiche Familie« am Schalter vor, aber packt sie wieder ein, noch bevor sie die Fahrkarte bekommt. Vielleicht, denkt sie später, im Abteil, habe ich ja ein Dutzend Halbgeschwister in Indien? Abkömmlinge der Erleuchtung. Sie unterdrückt ein Lachen, denn sie ist nicht allein.
    Der Schmutz am Fenster verbindet sich mit dem Schmutz der Landschaft dahinter, unmöglich zu sagen, welcher graue Faden, welcher silbrige Klecks zum Sujet gehört und welcher zu dessen Abbildung. Der Zug windet sich durch die Wälder Nordhessens und steht dann als ratternde Vitrine über dem ostwestfälischen Land. Wer weiß, was das Bild des Fensters für die anderen Fahrgäste darstellt.
    Sie sieht ihn in einem weißen Laken, den Oliventon seiner Haut, seine schmalen Hände, die Hüftknochen wie ein handgeschnitzer Rahmen um die Instrumente der Empfindung. Seine Augen sind emaillegrau, mit einem kaum wahrnehmbaren Bernsteinring um die Pupille, und dieser Ring wiederum eingefasst von einem hellen Zahnrad. Als wäre dahinter Licht. Sie sieht ihn im Fenster des Zugs, wie er die Augen schließt, um die Wandlung zu vollziehen, mein Leib, den ihr esset. Wie sie sich verboten hat, ihn haben zu wollen, und er dann, als er so weit war, die Schwärze ihrer Furcht weggetupft hat, Lust und Trost zugleich. Drei Tage im Bett und in der Badewanne, da könnte man schon fast die Namen tauschen. Das ist Franz, da draußen, auf den sanften weißen Hügeln Westfalens, aber es ist auch sie selbst, Marleen, glücklich, erschöpft. Der Zugkörper schüttelt sie und zerrt an ihr und versetzt ihr Schübe, um sie zu erinnern an das, was sie begonnen hat zu werden, mit Franz, neben ihm, durch ihn, für ihn; das Quietschen der Lok im Düsseldorfer Hauptbahnhof eine Fanfare, der Rhein ein Silbertablett.
    Am Neusser Bahnhof wartet der blassblaue Citroën mit rostroten Adern an den Rockzipfeln, die Abgase treten stoßweise aus, ein nervöser Raucher. Tatsächlich raucht Lore Schuller, die am Steuer sitzt. Marleen öffnet die hintere Tür, wirft ihren Koffer hinein mit zu viel Schwung, schlägt sie zu und steigt dann vorne ein. Einen Moment zögert sie, ihrer Mutter einen Kuss zu geben, weil die Zigarette, die diese mit rechts hält, im Weg ist.
    »Du riechst wie ein Aschenbecher.«
    »Aber ich bin ein Vulkan.«
    »Erkaltet?«
    »Das glaubst du. Hochmut der Jugend.«
    Marleen kurbelt das Fenster runter, während der Bahnhof in Lores Rückspiegel kleiner wird. Beißend feuchtkalt zieht es von draußen herein, so dass Marleen, auf ein Murmeln ihrer Mutter hin, das Fenster wieder schließt. Die schaltet den Wagen mit Feingefühl, so dass man sein leichtes Schaukeln spürt, während er die großen Straßen kreuzt, sich nach links neigend, geradezu verbeugend, als Lore im dritten Gang in die Pomona einbiegt. Noch nie hat Marleen die Lage und Gestalt der Pomona für etwas

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