Nichts Weißes: Roman (German Edition)
so viel ist klar, Weingart hat sie und die anderen an der richtigen Stelle gepackt, wie man Welpen im Genick nimmt und sie dahin bugsiert, wo es Futter gibt. Merkwürdig jedoch: Kaum jemand nimmt sich Zeit, den Bleisatz kennenzulernen, hundertsechzig Einzelstücke im Setzkasten, die man kennen muss, nicht nur die Buchstaben und Satzzeichen, das Blindmaterial auch. Man hält den Winkelhaken freischwebend. Darin werden Zeilen aufgebaut, Letter für Letter, Zeilen gestapelt, bis sie ganze Seiten ergeben, Letterntafeln, die verschnürt werden. Es ist so, als müsste man mit den seitenverkehrten Buchstaben ein zweites Mal lesen lernen. Wie der Anfang am Klavier. Die Anleitung besagt, linke Hand dies und rechte jenes, aber dann setzt die Anleitung plötzlich aus, und man muss selber wissen, was man mit seinen Händen macht. Der Vergleich stammt von Esmeralda, der Einzigen neben Marleen, die versucht, den Setzkasten zu bespielen. Esmeralda hat sich eine Episode aus Platero und ich vorgenommen. Marleen glaubt, die Geschichte vom Esel sei leichter zu meistern als ihre Seite aus 1984 , wegen der spanischen Kleinschreibung. Diese gewisse Unverschämtheit von Majuskeln, sich auf der Seite breit zu machen wie Könige, muss verhindert werden durch Spationierung. Jeder Zwischenraum, selbst der geringste, wird durch ein Scheibchen dargestellt, das man dem Setzkasten entnimmt, und, wenn doch nicht verwendet, in das richtige Fach zurücklegen muss, weil man es sonst nicht mehr wiederfindet. Die jungen Frauen sitzen nebeneinander, damit sie indenselben Kasten greifen, auf drehbaren Hockern, um sich schnell bewegen zu können. Esmeraldas Text, weil sie links sitzt, wächst in Richtung von Marleen und Marleens Text in Richtung Tischkante. Es ist gut, nicht allein zu sein dabei, weil die Detailarbeit einen ins Grübeln bringt, aber Grübeln hilft nicht weiter, die Strecke zählt, das Maß des Ganzen, und das Ganze ist das Blatt, auf dem der Text am Ende schwarz und seitenrichtig erscheint, wenn er gedruckt wird. Erst dann sieht man die Fehler. Esmeralda findet das Wort »Fehler« unangemessen, »a-uto-ritarr«, sie nennt korrekturwürdige Stellen »Ausnahmen«, das Wort hat sie aus dem Wörterbuch. Für Marleen bleiben Fehler Fehler.
Bei Weingart stümpert die eine Hälfte der Gruppe von Abgabe zu Abgabe, während die andere sichtbare Fortschritte macht. Esmeralda ist das »y« zugefallen. Marleen rätselt, ob es so etwas gibt wie die Affinität eines Menschen zu einem Buchstaben, oder ob das schon Aberglaube sei. Wie das kommt, dass der Zufall sich verwandelt in ein persönliches Symbol.
»Hinrich, zum Beispiel«, murmelt sie in Gegenwart Esmeraldas, »tut sich schwer mit dem ›k‹. Egal, was er macht, es sieht immer ungelenk aus. Er hat damit überhaupt nichts am Hut.«
»Am Chut?«, fragt das Y.
Das Y war vornehm in Erscheinung getreten, als halbhohe Figur in seinem Rahmen, eine klassizistische Schönheit, auf sich allein gestellt. Bei der zweiten Abgabe war es zum Greifen nah, nicht nur riesig, sondern auch körperlich, indem nur noch die Verzweigung erschien, pechschwarz, so knapp wie möglich beschnitten, das Y eher zu vermuten als zu erkennen, während es tatsächlich nichts anderes war »als die Muschi einer Flamencotänzerin in voller Bewegung«, das jedenfalls nuschelte dieser Klaus dem bleichen Mädchen ins Ohr, in derMensaschlange, aber Marleen hörte es mit. Dann, »in Perspektive«, war es in voller Figur wiedererstanden, die Enden über den imaginären Bühnenrand gelegt – die gebrochene Diva in einem Stummfilm.
Esmeralda, Tochter eines Lastwagenfahrers und einer Schneiderin aus Murcia, tat sich leicht mit den Aufgaben, aber haderte mit der Wirklichkeit. Sie war mit zwei Mädchen zusammengezogen, die sich nicht vertrugen. Da zog eine Sabine aus, Dorit hängte einen Zettel ans schwarze Brett, und als Nächstes stand, zu Esmeraldas Überraschung, jemand mit Zopf vor der Tür, Flaum am Kinn, und das war Klaus. Es war undenkbar, nach Murcia zu vermelden, dass sie mit einem Mann zusammenwohnte, und unmöglich, Klaus zu verbieten, ans Telefon gehen.
»Wie soll ich das erklären? ›Wohngemeinschaft‹, das gibt es überhaupt nicht auf Spanisch.«
»Wieso eigentlich nicht?«, fragte Marleen.
»Es gibt Wohn heime . Oder man mietet bei einer alten Dame. Die meisten bleiben einfach mit der Familie.«
»Das ist ja schrecklich«, entfuhr es Marleen.
»Schrecklich?«
»Dann ist man ja nie wirklich allein.«
»Und das ist
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