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Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Titel: Nichts Weißes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulf Erdmann Ziegler
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Mitte des Rundgangs, nahm er ein Bild vom Tisch und hielt es hoch. Es zeigte Franz Josef Strauß im Fernsehen, der »dasKleid«, oder eigentlich nur dessen Muster, als Krawatte trug: »Darauf muss man erst einmal kommen. Von hinten durch die Brust ins Auge.« Wer eine empfindliche Nase hatte, konnte den Angstschweiß der jungen Leute riechen, denen Kluess sich näherte.
    Nun war er bei Marleen. Sie roch nicht, und sie fürchtete sich nicht. Vor allem war sie nicht Partei. Sie gehörte nicht zur Sekte. Kluess spürte das, wollte sie aber gewinnen. Er hielt ihre Bilder in die Runde, das Graffito als Detail in der linken, den dekorierten Baum in der rechten Hand.
    »Männerphantasien«, sagte er. »Nicht übel, oder?« Er legte die Fotos zurück und sah ihr in die Augen. Dann beugte er sich über das Blatt von Franz, las es, nahm es, und zerrupfte es in kleine Stücke, die er wie Herbstblätter zu Boden flattern ließ: »Hirnschmalz. Hirnwichse. Was wir hier brauchen, sind Bilder, Bilder, Bilder.« Franz stand auf, ein wenig bleich, doch ruhig. Er fixierte Kluess, der ihm auswich. Marleen versuchte, Franzens Blick aufzufangen, bevor er sich abwandte und im äußeren Bogen des Hufeisens zur Tür strebte, nicht langsam und nicht schnell. Marleen zögerte. Hagen Kluess war jetzt bei Dorit, der er Komplimente machte. Marleen schob ihre Bilder übereinander, rollte sie, breitete sie dann wieder aus, packte sie noch einmal zusammen, schob den Stuhl zurück – er kreischte – und folgte Franz, der schon längst draußen war. Sie schloss die Tür hinter sich, lief, lief, rief nach ihm, Franz, Franziskus, Franz, aber er war nirgendwo, er wartete nicht, er saß nicht in der Mensa, er hatte sich nicht in der Bibliothek versteckt. Dort verzog sich Marleen im oberen Stockwerk hinter das letzte Regal und weinte stumm.
    So wie Kurzsichtige, deren Brille zerbrochen ist, schreckhaft erscheinen, so war auch Marleens Sicht der Dinge plötzlich verkürzt, der Tastsinn verlässlicher als der Orientierungssinn. Hilfe hätte sie gebraucht. Alles, was Franz in der Wohnunghinterlassen hatte, war eine Klemmlampe und die gerahmte Zeichnung an der Wand. Kein Gruß, nichts. Der Schlüssel im Briefkasten. Franz war einfach verschwunden. Sie saß unbeweglich am Küchentisch, vor sich ihre Fotografien, und starrte an die grüne Wand, während sie sich fragte, ob er sie ohnehin hatte verlassen wollen; ob er sie, auch wenn es so schien, gar nicht wirklich verlassen hätte; ob er – wenn sie bei Kluess sogleich aufgestanden und demonstrativ mit ihm gegangen wäre – jetzt mit ihr hier sitzen würde. Eine Antwort fand sie nicht. Sie hatte großen Hunger, es wurde irgendwann dunkel, auf sehr steile, dramatische Art, denn die Küche lag zum Hinterhof, und Marleen saß immer noch da, wund, verwüstet, leer; die Frau ist Brei, schießt es ihr durch den Kopf, die Frau ist das Meer. Aber was soll das bedeuten?
    Sie isst wenig, schläft kaum, verpasst am nächsten Tag die Endsemesterpräsentation bei Tomas Weingart, grübelt wieder bei Dämmerung. Sie reißt sich da raus, indem sie zu putzen beginnt, erst Franzens Bett abzieht, dann staubwischt, dann den Herd auf Hochglanz bringt, und als sie die Wischlappen sucht, findet sie eine Plastiktüte, in der zwei Dosen Lack unangebrochen aufbewahrt sind, mit einem Sortiment von Pinseln und Terpentin. Sie öffnet die Dose mit einem Schraubenzieher und ist sofort benebelt von den Dämpfen. Sie malt eine Probe zwischen Herd und Kühlschrank, ein zunächst wässrig-blasser, dann, beim Überstreichen sich tiefrot schließender Fleck. Sie trägt den Tisch in den Flur, rückt die Geräte ab, bringt Fotolampen rein und schrubbt nun den gelackten Sockel, ein erster Angriff, das darf noch einmal glänzen, bevor es verschwinden wird, dieses Pseudogrün, dieses Nichts. Eine Stunde vor Mitternacht beginnt sie, während die alten Fragen in ihrem Kopf kreisen, den Sockel, alles vom Nabel abwärts blutrot zu übermalen. Sie weiß, die Farbe wird am nächsten Tag ein mattglänzendes Kaminrot sein, ein mexikanisches Rot, so wie der Dosendeckel es in Form eines Punktes zeigt, aber jetzt ist es ein Aderlass, ein Rütteln am wehrlosen Opfer, ein rotes Verspritzen, Träufeln, Verlaufen, die ganze Küche eine Riesenwunde, pulsierend, ein geöffnetes Herz. Es tut so gut, sie schläft bei 500 Watt Beleuchtung auf dem Küchenstuhl ein, als sie fertig ist gegen Morgen. Es mag Mittag sein, als es läutet – das Läuten ist aber ein lautes

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