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Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Titel: Nichts Weißes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulf Erdmann Ziegler
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Sie hat natürlich recht … Ich kann es nicht bestreiten, wenn Marleen mich fragt, ob sie Ministrantin werden darf, nächstes Jahr, dann muss ich dem Bischof folgen und Nein sagen. Ich würde versuchen, ihr die Gründe zu nennen …«
    »Die, soweit unsere Tochter Johanna als Quelle in Frage kommt, darin liegen, dass Frauen ›unrein sind‹, was heißen soll: menstruieren.«
    Der Kaplan lächelte.
    »So etwas ist vielleicht früher gesagt worden oder wird an mehr oder weniger geeigneter Stelle noch heute wiederholt. Andererseits sah die Kirche früher hinter jedem Ofen eine Hexe sitzen, heute gibt es keine mehr. Will sagen: Mit den Ansichten werden auch die Gründe blasser, und bisweilen gibt es eine gründliche Revision. Die Kirche bewegt sich schon, aber sie ist hierarchisch und international. Was niemals gefährdet werden darf, ist ihre Einheit. Deshalb leben bisweilen Traditionen fort. Eher weil man vergessen hat, sie zu befragen, nicht weil sie unabänderlich wären.«
    »Sie meinen, wenn Marleen dabeibleibt, kann sie hoffen, dass ihre Tochter irgendwann einmal Ministrantin sein darf?«
    »Das fragen Sie mich?«
    »Ja, das frage ich dich. Ich meine, Sie.«
    Er ließ sich nichts anmerken.
    »Ich glaube ja. Wissen Sie, diese Kirche ist groß, aber nichts ist unmöglich. Wir predigen ja auch nicht die Gewissheit, sondern den Glauben.«
    Sie kehrten über das Fernsehzimmer, wo Linus Werbung schaute, zum Eingang zurück. Der Kaplan ging neben Lore die breite Treppe hinunter.
    »Ich möchte sie nicht bedrängen. Es wäre nur gut, wenn Marleen mit mir das Gespräch suchen würde.«
    »Ich bezweifle nicht, dass sie bei Ihnen etwas lernen kann.« Als sie an der Haustür waren, fand sich auf ihrer Schulter seine rechte Hand, die, als er sie zurücknahm, ihre Schulterblätter streifte wie der Ast eines Baumes, vor dem man sich duckt.
    »Auf Wiedersehen.«
    »Ganz bestimmt«, sagte er.
    Lore schloss die Tür. Sie hatte diesen nagelneuen Patent-BH, den man mit geringem Druck auf den flach gezogenen Verschluss öffnen konnte. Jetzt war er offen.
    »Was wollte der?«, fragte Linus, als sie aus der anderen Richtung vorbeikam.
    »Nach dem Rechten sehen«, antwortete Lore und schloss die Tür hinter sich.
    Im Atelier war ein schwenkbarer Spiegel aufgestellt, um Vorlagen seitenverkehrt betrachten zu können. Und auch, weil sie gelegentlich sich selbst als Modell brauchte. Sie zog sich ihren Rollkragenpulli über den Kopf. Der BH kam mit. Sie sah ihre Brüste im Spiegel an, volle Brüste, die etwas fragend aufschauten, von vier Kindern keine Spur.
    »Du bist das Mauerblümchen der Pomona«, dachte sie. »Das kann ja noch was werden.« Dann zog sie sich wieder an und widmete sich dem Männlein, das dabei war, sich in einen glatzköpfigen Lufttroll zu verwandeln, dem sie in der Viertelstunde bis zum Mittagessen mit den Kindern einen geflügelten Tornister verpasste.
    In der Pomona wurde Petrus nur noch selten gesichtet, ein beseelter Handelsreisender, aus dessen Koffern fremde Stoffe und Gerüche kamen, die sich im Haus ausbreiteten, undschon war er wieder unterwegs. Im November vergaß er gleich drei Geburtstage – Lores, Johannas, Linus’. Zu Beginn der Adventszeit raspelte er süße Worte von einem »Familientreffen« in Florida, er würde von Indien nach Amerika fliegen, hatte aber noch keine Zusage für das Haus dort; und bat Lore am 19. Dezember, die Kinder wie auf heißen Kohlen, zu erfragen, was es koste, »mit der ganzen Bagage am 24. rüberzusetzen«. So drückte er sich aus. Es kostete, wie Lore herausfand, so viel wie ein neues Auto. Er bedauerte das sehr: »Es wird hier jetzt erst richtig interessant. Die ganze Sache ist in Gründung, mit Hand und Fuß, davon können Leute wie wir eine Menge mitnehmen.« Diese Worte, Petrus’ Handschrift, kamen aus dem Fernkopierer, den Lore angeschafft hatte, um bei Auftraggebern Eindruck zu machen, ein kühlschrankgroßes Gerät im Hausflur, auf dem das Telefon stand. Die Absender-Kennung verriet eine Werbeagentur in Delhi, obwohl Petrus vorgab, in Poona zu sein. Nicht, dass es im Haus keinen Weltatlas gegeben hätte.
    Über die Feiertage sollte die 133 ergänzt werden durch Ingolf, der jetzt weinrote Feincordhosen trug, das ausgestellte Bein den Schuh verdeckend. Seine Eltern hatten sich in der Adventszeit zerstritten. Der Vater war in ein Düsseldorfer Penthouse gezogen, das er schon Monate zuvor heimlich gemietet hatte. Die Mutter hatte einen Skiurlaub im Zillertal, der Vater

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