Nichts Weißes: Roman (German Edition)
in Sils Maria gebucht, beide den Jungen bedrängend mitzukommen, während sie miteinander schon nicht mehr sprachen. Zufällig hatte Ingolf den Anwalt des Vaters am Telefon, den er in aller Ruhe belehrte, eine Scheidung seiner Eltern sei »aus kirchenrechtlichen Gründen« ausgeschlossen.
Nun sah man, dass ein großes Herz zu haben nicht schaden konnte. Marleen, die er einfühlsam hatte wissen lassen, die heilige Kirche stünde ihr immer offen und außerdem habe sie in der Messdienerinnenfrage eigentlich recht, entging IngolfsVerzweiflung nicht. Als er auf dem Pausenhof verlegen stotterte, half sie ihm weiter.
»Bei uns wackeln auch die Wände.«
»Ja?«
»Und ob. Wenn ich mir meine Mama angucke. Mein Daddy turnt seit einem halben Jahr in Indien rum.«
»Aber der kommt ja zurück.«
»Glaub’ ich nich’.«
»Was?!«
In den nächsten Tagen sah man sie immer zusammen, so wie am Anfang. Nach einer fünften Schulstunde blieben sie einfach sitzen, legten, als alle gegangen waren, die Köpfe aufs Pult und flüsterten sich ihre Geheimnisse zu. Marleen durfte wieder ihre Hand in Ingolfs Haar legen, wo sie liegen blieb wie ein Ei im Nest. So entstand der Plan, dass er sich dem Streit seiner Eltern vorerst entziehen sollte. Er solle, ersann Marleen, dem Vater andeuten, dass er mitkommen werde in die Schweiz, und der Mutter, dass Österreich klarginge,
»Das merken sie ja nicht, wenn sie nicht miteinander reden.«
Ingolf grinste unter der getrockneten Spur seiner Tränen. Am letzten Schultag vor Weihnachten, so Marleen, würde er mit seinem Fahrrad in der Pomona 133 auftauchen und von dort aus zwei Anrufe tätigen, deren Folge doch mit großer Wahrscheinlichkeit sein würde, dass die Eltern jeweils allein abreisten und Ingolf zurückbliebe.
Ingolf: »Du musst nur vorher deine Mama fragen.«
Marleen: »Och.«
Als es dann so weit war, log er gegenüber dem Vater, er fahre jetzt doch mit der Mutter. Die aber war nicht so leicht zu überzeugen. Er bemühte sich, es so klingen zu lassen, als wäre Weihnachten bei den Schullers zu verbringen die natürlichste Sache von der Welt; keinesfalls durfte bei seiner Mutter die Furcht aufkommen, Ingolf könne ihr verlorengehen. Schließlich erschien sie in der Pomona mit ihrem schwarzen Mini, ein Paar Skier auf dem Dach, im Kofferraum Geschenke, und besprach sich mit Lore, die so tat, als würde Petrus zu Weihnachten zurückkommen, was sie selbst einen Moment lang glaubte. So fuhr Ingolfs Mutter davon, in der festen Überzeugung, der Junge suche für den schlimmsten Augenblick die Geborgenheit einer intakten Familie. Während er in Wirklichkeit, auf seine Weise, ein aparter Ersatz für Petrus sein würde, ein Mann im Haus. In Vorahnung dessen, und sei sie noch so schemenhaft, trafen sich, ohne darüber miteinander zu reden, Lore und Marleen in kleinen Lügenmanövern.
Ein richtiger kleiner Prinz war er. Marleen schenkte Ingolf ein Stehkragenhemd mit zwei vertikalen Bändern glitzernder Pailletten, das ihr Petrus mitgebracht hatte, von Cristina bekam er dänische Clogs, und Johanna hängte ihm ein hölzernes Kreuz um, an einem schwarzen Lederband, so dass Ingolf mit seinen weinroten Cordhosen und seiner Haarpracht in den modernen Räumen der 133 wirkte, als wäre er soeben aus Haight-Ashbury eingeschwebt. Er umschwärmte Marleen und betete heimlich mit Johanna, war in väterlicher Weise zärtlich zu Cristina, die ihn mit ihren florentinischen Augen still bewunderte, und trug Linus auf dem Rücken, der begeistert war von dem Wunder, plötzlich einen älteren Bruder zu haben. Was die Messen betraf, waren alle mal dran, Pius, Quirin und Dreikönige. Pius beehrten sie am Silvesterabend um sechs, wo die Messe vom Kaplan Valentin gelesen wurde. Lore nahm diesmal teil an der Kommunion, und als der Kaplan ihr den Becher reichte und ihr in die Augen sah, trank sie vom Blut Christi mit der ungeahnten Folge, dass sie den Kopf senkte und die Augen schloss und etwas im Licht einer Kerze vor sich sah: sich selbst und den Kaplan in vollständigerVereinigung. Sie spürte, wie ihr der Kopf rot anlief, und es war ihr gerade recht.
Am ersten Geschäftstag des Jahres 1975 saß Lore, vom Betrieb im Foyer abgeschirmt durch eine graue Stellwand, beim Filialleiter der Deutschen Bank, mit einer kniffligen Frage. Wie konnte sie, als Ehefrau, es verhindern, dass ihr Mann einen Teil des gemeinsamen Vermögens einer Sekte vermachte; und war es möglich, sein monatlich aus Düsseldorf überwiesenes Gehalt
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