Nichts Weißes: Roman (German Edition)
vor Abbuchungen aus der Ferne, die schon in erheblichem Umfang stattgefunden hatten, zu schützen? Der Bankmann las, nur gelegentlich sich räuspernd, die Unterlagen und gab dann Entwarnung. Das Haus, weitgehend abbezahlt, sei auf beider Namen eingetragen und mit einer Unterschrift allein nicht zu veräußern. Noch ausstehende Kredite müssten selbstverständlich weiter bedient werden, sonst drohte Gefahr. Er schlug vor, den Dispositionskredit des gemeinsamen Kontos auf null herunterzufahren und das Gehalt am Tag seines Eingangs – er versprach, darauf in den nächsten Monaten persönlich ein Auge zu haben – auf ein anderes Girokonto zu überweisen, das sie jetzt unter eigenem Namen, gesichert gegen Zugriff »einer anderen Person«, eröffnen würde.
»Kann es da rechtlich Probleme geben?«
»Womit, gnädige Frau?«
»Mit dem Transfer des Gehalts.«
»Nein. Sie haben die Vollmacht über dieses Konto, und Sie nutzen sie. Das ist alles. Das Problem könnte nur mittelfristig sein, wenn – ich meine falls – das Gehalt von … wie heißen die jetzt noch mal … Kilip und Partner nicht mehr überwiesen würde.«
»Ich bin selbstständig«, sagte Lore.
»Gewiss«, antwortete die Deutsche Bank, sich ein flüchtiges Lächeln erlaubend.
Am gleichen Nachmittag gab Lore die beiden Enten beim Citroën-Händler ab, im Tausch für einen himmelblauen CS Break, ein Automobil von ungewöhnlicher Heiterkeit.
Tempi Novi
Paris ist keine Stadt, sondern eine Maschine. Der Motor brummt bei Tag und bei Nacht. Er betreibt den Stoffwechsel von Energien. Entzogen werden Artigkeit, Bescheidenheit und Mamastoffe, zugeführt werden Heldentropfen, Widerstandsbläschen, Egozucker. Wille und Wirklichkeit spiegeln sich wie der Bizeps rechts und der Bizeps links. Auf den großen Plätzen stehen Obeliske, die in den Himmel zeigen, und auf den weniger großen Pferde samt Reitern.
Alles geht mit doppelter Geschwindigkeit. Man geht ins Bett und denkt, man hätte nur die Hälfte erledigt. Währenddessen dröhnt die Stadt, Deckel drauf und man liegt im Topf gefangen. Man wird bebrütet und gegart. Man springt am Morgen beim Hupton durch eine sich von rechts und links gleichzeitig schließende Tür, während der Boden, auf dem man landet, sich in Bewegung setzt. Leider steht man auf dem Fuß des Nachbarn. Man sagt hier gnadenlos »Pardon«, zwanzigmal am Tag, wenn es sein muss.
Irgendwo in dem Koffer oder in einer der beiden Taschen ist auch der Langenscheidt, noch aus der Schulzeit, aber Marleen kommt nicht dazu, ihn auszupacken. Sie ist so schrecklich müde, von den Fahrten, dem Geplapper, dem Büro, von den kleinen Kindern der Jaccottets am Abend, die sie sogar anstrengen, wenn sie schlafen. Sie geht zwei Wochen lang hungrig ins Bett, bis sie das Angebot annimmt, sich in der Küche zu versorgen. Das tut sie, wenn von den Kindern nichts mehr zu hören ist. Sobald die Jaccottets wieder zu Hause sind, schleppt sie sich hoch in die Mädchenkammer unter dem Dach, wo ein altes, zu kurzes Metallbett mit einer zu weichen Matratze steht. »Défense« würde sie nachschlagen. Daskönnte mit der Verteidigung zu tun haben, der Kriegszeit. Oder mit der Feuerwehr. Wenn sie nur nicht so müde wäre.
Solange sie unterwegs ist, am Morgen, taucht es immer wieder auf, überall. Sie weiß auch wo und erwartet es schon: An der Brandmauer um die Ecke steht es, fast unlesbar in bröckelnden, pechschwarzen Buchstaben. Am Bauzaun vor der Metro ist es mehrfach zu lesen, in Abständen von sechs Metern, gesprayt. Am Gerichtsgebäude ist es auf Messingschilder graviert, für jeden Gebäudeflügel einmal. Hoch über dem Eingang des Gymnasiums bemerkt sie es an einem späten Nachmittag, auf dem Rückweg, wegen der Schatten. Die Buchstaben stehen in riesigen steinernen Versalien über dem Portikus, als sei dies der Name der Schule: DEFENSE D’AFFICHER.
Kaum war Franz aus ihrem Leben entschwunden, stellte Marleen fest, dass sie in Kassel jeden kannte und dennoch einsam war. Alle hatten großen Spaß »an der Schule«, aber niemand schien ein Ziel zu verfolgen. Die einen wollten erst mal ihr kreatives Potenzial ausschöpfen, die anderen vielleicht »was in der Werbung« machen; einer wechselte zu den freien Malern und sprach danach nicht mehr mit den Illustratoren; die Filmleute tuschelten fortwährend über größenwahnsinnige Projekte, die in störrischen Fünfminutenfilmchen endeten. An denen hatten sie dann ein Jahr lang gearbeitet. Marleen aber verfolgte sehr wohl
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