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Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Titel: Nichts Weißes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulf Erdmann Ziegler
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über die Werkstatt. Fränzi Lüthi nimmt Anrufe an. Eine Mademoiselle Monique sitzt vor einem Klotz von einer Maschine mit einem gläsernen Auge und schreibt auf der Tastatur, die davor auf einem fahrbaren Tischchen liegt, mit zehn Fingern fliegend. Im Labyrinth des Ateliers, mit seinen semitransparenten Scheiben, arbeitet ein halbes Dutzend Assistenten. Davon ist die Hälfte mit Anwendungen beschäftigt, Signets werden entworfen, komplette Erscheinungsbilder für mittlere Betriebe, das Layout für einen Jahresbericht. Die anderen arbeiten wirklich an Schriften. André, ein großer Junge aus dem Basler Land, verbringt den Montag über Entwürfen zu einem »e«. Fast hätte sie zu ihm gesagt, dass dies ihr Buchstabe sei. Am Abend, die Aktentasche unter dem Arm, sieht Passeraub sich Andrés Arbeit mit zusammengekniffenen Augen an. Er legt seinenFinger auf das Papier und ruft: »Den Auslauf leicht verstärken!« Dann ist er weg.
    Kein Radio im Atelier, keine Musik, kein Wort zu viel. Marleen ist glücklich. Noch macht sie Krümelarbeit, aber das ist allemal besser als zuzusehen. Kaum ist sie wieder auf der Straße, läuft ihr die Zeit davon. Sie bemerkt, dass die Pariserinnen sich schnell bewegen. Frauen flanieren nicht.
    Ende September fragt Pierre, ob sie am Sonnabend mitkommen wolle in die Oper. Die Kinder seien dann bei einer befreundeten Familie auf dem Land. Marleen zögert. Sie sollte jetzt besser nicht sagen, dass L’incoronazione di Poppea für sie im Moment nicht so wichtig sei. Pierre sagt, »Du musst nicht, Marleen.« Sie sagt danke. Kaum sind die Jaccottets aus dem Haus, geht sie hoch in ihre Kammer. Die Kraft reicht noch so eben, um sich auszuziehen, dann schlüpft sie unter die Steppdecke und zieht die Filzdecke drüber. Die ist braun und trägt am unteren Ende ein rotes Feld, in dem ein quadratisches Kreuz ausgespart ist.

Rien
    Es gibt einen langen Tisch für die Arbeit im Kollektiv und für betriebsinterne Präsentationen. Es gibt zwei Arbeitsplätze, in denen Schreib- und Zeichentisch kombiniert sind, die gehören Stüssi und Furrer. Auf einer Konsole steht jenes große, kastenförmige Gerät, an dem abwechselnd oder gemeinsam Monique und Alain arbeiten. Sie nennen den Kasten zärtlich »la Citronique«. Alain sagt, es sei Moniques saure Schwester. Die Arbeitsflächen der Assistenten sind groß genug, um mehrere Entwurfsbögen nebeneinander zu legen. An einem großen Leuchttisch sitzt ein dicker junger Mann mit einer dicken Brille und schneidet Folien wie ein Graveur. Das ist Wendelin. Der Platz, den man für Marleen freimacht, hat einer Simone gehört, die das Atelier von einem Tag auf den anderen verlassen hat. Liegengeblieben sind Vorstudien einer modernen Schrift, und zwar ein fetter Schnitt, das sieht Marleen, während Niklas Furrer das Material mit den Händen zusammenfegt und im Papierkorb versenkt.
    »Das brauchen wir nicht mehr«, stellt er fest, mit der Unverrückbarkeit der Schweizer Diktion.
    Zurück bleibt das Werkzeug: Stifte, Pinsel, Messer, Papier, Folien, Lineal, Zirkel. Tabula rasa.
    Marleens Nische liegt jenseits des Flurs mit mattem Tageslicht von einem Fensterfries her, der auf den Hinterhof hinausgeht. Es gibt vier solcher Nischen ohne Türen. Drei davon sind belegt vom Archiv. Täglich wachsend, wird es irgendwann den Raum brauchen, der jetzt Marleens Arbeitsplatz ist. Ein fünftes Zimmerchen hat eine doppelte Tür, eine Lichtschleuse. Kaum zu begreifen, wie der dickeWendelin sich in diese Zelle quetscht mit den Filmen aus der Citronique, Negative, die er entwickelt, im entlegensten Winkel des Ateliers. Am Ende des Flurs gibt es nur noch zwei Türen, Femmes und Hommes. Sie bemerkt die Schatten derer, die vorbeikommen, auf ihrem Zeichentisch. Es hat aber keinen Sinn aufzuschauen, weil niemand stehenbleibt. Da der Flur in der oberen Hälfte verglast ist und ihre Nische keine Tür hat, erreicht sie das Mischlicht aus der Werkstatt. Wie um sie zu testen, gibt Furrer ihr vier Großbuchstaben, Weiß auf Schwarz, die das Logo einer Boutique namens RIEN werden sollen. Furrer ist ein Mann von sanfter Ironie, seine Augenbrauen immer fragend. Er ist doppelt so alt wie Marleen.
    »S’sind jungi Lüüd, wo … Das sind junge Leute, die alles selbst nähen. Sie haben es auch mit einem Männerparfum probiert, das ein wenig zu streng geraten ist. Hier, sehen Sie das Bild. Ein schmales Ladengeschäft, in der Nähe vom Boul’ Mich’, auf dem Weg zur Universität.«
    »Ist das … Ist das

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