Nichts Weißes: Roman (German Edition)
ein Ziel, nämlich die Schrift zu verstehen. Esme hatte gesagt, bevor sie nach zwei Wochen wieder auszog, dass es das gar nicht gebe, »die Schrift«, es gebe nur Schriften, und die könne man lernen wie das Rechnen, anfangs nicht leicht, aber letztlich kein Geheimnis.
Mit diesem Ziel vor Augen, hatte Marleen in Kassel ihre Aufgaben erledigt, ihre Leistungsscheine eingesammelt. Sie las einige Standardwerke zur Geschichte der Schrift und wurde dann bei Tomas Weingart HiWi, obwohl sie mehr Hilfewar als Wissenschaftlerin, die Instruktion im Blei- und Fotosatz übernehmend. Am Anfang des Sommersemesters wurde Weingart krank, und, weil er keinen Assistenten hatte, wurde sie gebeten, die Grundlehre zu beginnen. Wie jung die Neuen waren, unvoreingenommen, frisch, noch ganz Abitur und Lagerfeuer. Natürlich reizte das strenge Mädchen mit dem rheinischen Akzent ihren Widerstand, und einer, Beamtensohn aus Wiesbaden, fragte sie heiter und boshaft, was man in einer Typografieklasse denn lernen könne. Bei Weingart hatte sie sich abgeschaut, mit Verzögerung zu antworten. Während sie überlegte, überfiel sie ein Rauschen, ein wohliger Grusel. Sie antwortete dem jungen Studenten:
»Die Schrift bestimmt den Sinn all dessen, was wir tun. Wir lernen mit sechs oder sieben Jahren zu schreiben, danach sind wir keine Analphabeten mehr. Schrift ist überall, und je mehr wir lesen, desto weniger sehen wir sie. Wenn wir uns also hier der Schrift zuwenden, dann befragen wir unsere Alphabetisierung. Wir versuchen, uns in den Zustand des Analphabeten zurückzuversetzen. Wir betrachten den Buchstaben, aber nicht seinen Sinn und auch nicht seinen Laut, sondern seine Gestalt. Wir verwandeln etwas, was bis dahin passiv war, in etwas Aktives. Seht euch die Ordnung des Setzkastens an, die nicht alphabetisch ist. Und warum ist sie das nicht?«
Das war eine mögliche Antwort auf die Frage; in den Augen der jungen Leute hatte sie bestanden. Dabei war der Moment des Grusels nicht weniger wahrhaftig als die wohldosierte Antwort. Marleen ahnte, warum Weingart so vorsichtig gewesen war. Es gab da ein Reservoir der Empfindung, wie ein Atem, der einem in den Nacken blies, und wenn man sich umdrehte, war nichts zu sehen.
Und wieder Buchstabenverlosung, Peh und Ceh und Ypsilon, Buchstabe im Feld schwebend, Buchstabe die Einfassungberührend, Buchstabe in Perspektive und so weiter. Jetzt, indem Marleen zusah, begriff sie: Der Buchstabe tendiert zum Lebendigen. Die Erstsemestler wiegen ihre eigenen Blätter mit Abscheu und Wehmut. Sie lieben ihre Buchstaben wie Teddys oder Puppen. Aber die Buchstaben erwidern ihre Liebe nicht.
Dann kam Weingart zurück, blass, aufgeschwemmt. Er sah ihr zu, wie sie unterrichtete. Als sie allein waren, sagte er:
»Also, es geht.«
»Ja, es geht.«
Man beginnt pünktlich im Atelier von Passeraub, nämlich um halb neun, und selten ist vor sechs Uhr abends Schluss. Marleen eilt zur Metro, sprintet durch den Tunnel, um den Anschluss zu erreichen, obwohl die Bahnen mit drei Minuten Abstand fahren. Wenn die Jaccottets Abendkonzerte geben, müssen sie vor halb sieben aufbrechen, um pünktlich zu sein, zwei-, drei- oder viermal die Woche. Die Kinder drehen schon auf, bevor die Eltern aus dem Haus sind. Es geht immer etwas zu Bruch in den ersten Minuten, in denen Marleen mit den Kindern allein ist. Anfangs hat sie es mit Strenge probiert, aber das macht es nur schlimmer. Das liegt vielleicht an der Sprache, denn David, der kleine, spricht nur Schweizerdeutsch. Katie geht in die französische Vorschule, aber wenn die Luft dick ist, wechselt sie in das Idiom des Bruders. Marleen gewöhnt sich: Man muss sich willenlos stellen. Wenn die Jaccottets nach Hause kommen, liegt Katie in ihrem Bett und ratzt wie ein Murmeltier. David liegt auf Marleen wie eine Raupe, schlafend, Marleen im Sessel, die Fernbedienung in der Hand, der Fernseher stumm, Tierfilme, Hollywood, MTV. Die Jaccottets übernehmen sofort, David wird in seinem Gitterbett versenkt, und Marleen, die den Fernseher ausgeschaltet hat, bekommt ein Glas Côtes du Rhône, bevor sie nach oben geht. Der dicke Sonyverstärker brummt und kratztein Cellosolo, das ist für Ann und Pierre die Nachtmusik. Da können sie sich selbst vergessen.
Und dann fällt das Einschlafen schwer. Marleen versucht es mit Listen: Die Franzosen haben den Film, den Eiffelturm, die DS und Monet. Die Deutschen haben Bach, Helmut Kohl, C. Bechstein und Christian Klar. Unsinn. Wir haben Bach, Hermann Zapf,
Weitere Kostenlose Bücher