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Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Titel: Nichts Weißes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulf Erdmann Ziegler
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für hier ein normaler Auftrag?« Besser kommt es erst einmal nicht raus. Es ist ja erst ihr fünfter Tag.
    Furrer wundert sich, wie forsch sie ist: »Ob er nicht zu klein ist, meinen Sie?«
    »Ja, ich dachte …«
    »Er ist klein, das stimmt. Aber wenn wir einen Auftrag annehmen, meinen wir es immer ernst. Da ist jeder Kunde gleich. Ob Condé Nast oder Rien, der Entwurf muss überzeugen. Nur bin ich selbst noch nicht überzeugt. Die Versalien habe ich so entworfen, dass sie aussehen wie schmale Figuren, die soeben zum Leben erwachen. Das gefällt mir. Das ganze Ding aber flattert. Bitte kümmern Sie sich um die Stände. Oder lösen Sie es, wie Sie wollen. Sie sind frei.«
    »Schwarz-weiß?«
    »Ich finde schon. Die haben ja kein Geld. Dieses Logo sollübrigens universal verwendet werden, für Preisschilder, Rechnungen, Korrespondenz. Let’s keep it simple.«
    Es dauert einige Stunden, dann hat sie’s, das E um 180 Grad gedreht, nach oben geschoben – Paternoster – und alle vier Buchstaben negativ in einen schwarzen Block gestellt. Furrer korrigiert daraufhin sein N, dass es eine Spur mehr auslädt, gibt es ihr zurück zur Montage. Am Ende des Arbeitstages hängt es in stechender Präzision auf Folie gedruckt am »Aushang«, ein Korkbrett in der Werkstatt, an dem man den Stand seiner Arbeit zeigen kann, wenn man möchte.
    »Es ist ein Blitz«, sagt Stüssi.
    »Es ist nichts«, sagt Furrer. Marleen wird bleich. Dann begreift sie das Wortspiel. Passeraub steht als guter Hirte lockig im Hintergrund und nickt. Am nächsten Morgen um neun erreicht sie die Nachricht, dass sie zu ihm »an den Platz« kommen soll.
    Titus Passeraub sah man sein Genie nicht an. Zwar hatte er diesen ins Silbrige changierenden Haarschopf und ein ernstes, aufgeräumtes Gesicht. Aber er war nicht sehr groß und beugte sich, sitzend wie stehend, leicht nach vorn, was einen servilen Eindruck hinterließ. Das aber hatte nichts zu tun mit seinem Selbstbild. Er war der entschiedenen Ansicht, den lesbaren Schriften im 20. Jahrhundert den wesentlichen Schub gegeben zu haben. Mit dreißig Jahren hatte er die Kosmos fertiggestellt, eine in jeder Richtung ausgearbeitete Systemschrift, die man nur noch, Detail für Detail, in die Vorlagen des Fotosatzes einspeisen musste, und schon hatte man alles, von den feinsten kursiven Minuskeln bis zu den ultrafetten Versalien, englaufend, weitlaufend, ein Kosmos in der Tat für den Typografen im Einsatz. Seiner Sache sicher, hatte Passeraub bei dieser Gelegenheit Bezeichnungen wie »mager«, »halbfett« und »fett« abgeschafft und stattdessen die Schriftstärken durch Zahlen wie 55, 65, 75 angezeigt, denn wer sich in seinemKosmos bewegte, war kein Handwerker mehr, ja vielleicht schon Ingenieur. Ob sie auf Katzenpfoten daherkam oder mit Pauken und Trompeten, die Kosmos war für jeden Schriftgrad in jeder Stärke bis ins Detail dieselbe Schöpfung im Kern, modern, aber nicht borniert; klar, aber nicht kalt; serifenlos, aber beseelt. Und das war nur der Anfang gewesen, Passeraubs Einstand bei Terreau & Racine, deren Boom mit dem Fotosatz er überhaupt erst ermöglicht hatte. Marleen war im Jahr zuvor auf die Kosmos gestoßen, zunächst glaubend, dass es sich um eine ganz neue Schrift handelte. Dabei war diese älter als sie selbst.
    Marleen, wie sie in Titus Passeraubs Atelierraum erschien, war mittlerweile zweiundzwanzig Jahre alt. Sie saß da in ihren Stuhl gegossen und hörte ihm zu. Der Straßenlärm kam hoch vom Boulevard. Es war Herbst. Sie wunderte sich über Passeraubs Zuwendung: Warum sollte er ausgerechnet ihr, der Neuen, seinen jüngsten Schriftentwurf vorstellen, der längst fertig war und dessen Markteinführung soeben begonnen hatte? Marleen aber hörte von den inneren Stimmen auf die mächtigste, die ihr sagte, dass sie hier am richtigen Platz sei. Es war ihre Aufgabe, Passeraub dabei zu lauschen, wie er die Tempi Novi erläuterte; sein letzter Versuch – daran ließ er keinen Zweifel –, dem Drängen der Moderne nachzugeben und diese mit Umsicht rückzubinden an die Traditionen der Schrift, von denen Passeraub zu wissen glaubte, dass sie nicht technisch, sondern menschlich waren.
    »Also, was denken Sie?«, fragte er.
    Marleen hatte ein schmales Gesicht, eines, das die Luft teilt. Hörte man ihr zu, war man versucht sich umzudrehen, also ihrem Blick zu folgen. Was sie sagte, hatte nicht zwingend mit dem zu tun, wohin sie schaute.
    Naheliegend war es, Passeraub beizupflichten und die Tempi Novi

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