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Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Titel: Nichts Weißes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulf Erdmann Ziegler
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als Lösung aller Probleme auszurufen, als Vollendungder modernen Schrift überhaupt. Nur, wie sollte sie das begründen; »Gefühl« oder »guter Geschmack« war hier bestimmt nicht gefragt. Außerdem war klar, dass Passeraub die Vorteile seiner Schrift besser kannte als ausgerechnet sie. Gab sie seine Selbstbeschreibung zurück wie ein Papagei, hielt er sie für schwach im Kopf. Erwähnte sie einen Vorteil, den sie selbst darin spürte – deren Unauffälligkeit –, fühlte er sich womöglich verkannt oder, schlimmer noch, belehrt. Die andere Möglichkeit bestand offensichtlich darin, ihm zu widersprechen, auf die Mängel der Schrift hinzuweisen. Die Kosmos war bereits minimalistisch gewesen, aber dennoch dynamisch, ein Resumée, die letzte in der Reihefolge der Generationen, alle Vorteile in sich versammelnd, die Futura und die Helvetica als die älteren Schwestern. Die Tempi Novi dagegen schien keine Verwandten zu haben; ihre Ähnlichkeiten waren die eines Klons. Ihren Namen konnte man ebenso als Verheißung begreifen wie als Drohung. Marleen dachte an ihren Plan, der ihr jahrelang vor Augen gestanden hatte: eine Schrift ohne Signatur zu schaffen, bereinigt von den Resten der in Stein gehauenen Sprache. Erst jetzt begann sie zu ahnen, dass es nicht dasselbe war, Traditionen auf ihren kleinsten gemeinsamen Nenner zu reduzieren oder sie zu schleifen wie lästiges Dekor. Sie war sich auch nicht ganz sicher, ob sie den Unterschied zwischen der Kosmos und der Tempi Novi richtig erkannte, und sie müsste Passeraub – und das wollte sie auch gleich tun – danach fragen, er war schließlich beider Erfinder, gar nicht zu reden von einer dritten und gewiss nicht unwichtigen Schrift, die irgendwie in der Mitte der beiden anderen stand, für einen Pariser Flughafen geschaffen worden war und später, weil sie für die allgemeine Markteinführung einen Namen brauchte, Passeraub genannt wurde. Sollte es aber stimmen, dass die Kosmos die eine Möglichkeit darstellte und die Tempi Novi die andere – zwei Enden des Spektrums, wennman sich vornimmt, eine Schrift zu schaffen, die kein Eigenleben führt –, dann gäbe es nichts mehr zu tun. Das konnte überhaupt der Grund sein, dass sie hier saß, vorbestimmt durch geheime Mächte; dann wäre Passeraub als Moderner ein Gott der Gottlosigkeit, nicht im wirklichen Leben, sondern im Reich der Schrift, und sie wäre die Ketzerin, die nun gezwungen war anzuerkennen, dass den Kult der Gottlosigkeit zu begründen nicht mehr möglich wäre, weil es ihn längst schon gab. Sie müsste ihm hier und jetzt ohne großes Aufheben beitreten, um danach für immer zu schweigen.
    Dies war es, was Marleen durch den Kopf ging. Sie bemerkte kaum, wie das Licht auf dem Boulevard diffus wurde. Sie hörte nicht das Rufen und nicht das Schreien. Sie wunderte sich, dass ihr Geruchssinn schmelzenden Kunststoff meldete, während sie über die Zukunft der Groteskschrift nachdachte. Sie glaubte, das Brodeln von Konfusion und Unheil, das in Waben zu ihr vordrang, hätte zu tun mit ihren eigenen Gedanken.
    Der Alltag des Typografen mochte auf Laien wirken, als würde eigentlich gar nichts geschehen. Erwachsene Menschen saßen den ganzen Tag lang vor Buchstabengebilden. Anders als die Bildhauerei, die auch ihre Zeit brauchte, machte das Schriftzeichnen nicht einmal Lärm. Ein Typograf wusste von seinem schneckenhaften Fortschritt und war wahrscheinlich deshalb so gewissenhaft wie ein Uhrmacher. Ein Tag war aus seiner Sicht nicht lang, sondern kurz. Man vertat nicht viel Zeit mit Geschwätz, man dehnte keine Mittagessen und trank auch keinen Weißwein dazu. Für eine wirkliche Unterbrechung des Arbeitstags musste die Citronique ausfallen oder überhaupt der Strom, aber auch das war noch nicht wirklich ein Grund, die Arbeit am Zeichentisch ruhen zu lassen. Da draußen war wohl wirklich etwas geschehen.
    Die erste Frage lautete, ob man hinuntergehen sollte, umzu helfen. Aber in ein rauchendes Kaufhaus zu laufen, vor dem Feuerwehrautos und Rettungswagen parkten, schien wenig vernünftig. Die zweite Option war, das Büro zu räumen, denn wenn es einen Anschlag gegeben hatte, konnte ein weiterer folgen. Es konnte auch der Kaufhausbrand außer Kontrolle geraten. Stüssi tastete die großen Fenster zum Boulevard alle paar Minuten ab, um zu prüfen, ob sie sich erhitzten.
    Marleen war nun, als wäre sie ein Laufbursche, vergessen. Ihr fiel auf, dass Fränzi und sie in diesem Augenblick die einzigen anwesenden Frauen

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