Nichts Weißes: Roman (German Edition)
waren, wobei Fränzi gerade besonders beschäftigt war, weil sie am Telefon versuchen musste, die Zeit anzuhalten. Die Männer – in der heutigen Besetzung acht, und sieben von ihnen Schweizer – standen dicht beisammen in der Werkstatt. Wie eine Gruppe Pinguine sahen sie aus in ihrer schwarzen und weißen Kleidung, mal in der Mitte des Raums, dann wiederum am Fenster, dann um den Arbeitsplatz Fränzis gedrängt.
Da war er, der Krieg, mitgebracht aus Algerien oder sonstwoher, im Koffer, unsichtbar, und vor ihren Augen aufgeflammt. Die Gegenwart wurde als Geisel genommen, der Schmerz per Zufall verteilt, der Stillstand erzwungen. Der Stillstand im Atelier Passeraub, Furrer und Stüssi fiel unter dieses Gebot der Verhältnismäßigkeit, dass man nicht weiterbaut an den Bögen und Pfeilern der zivilen Gesellschaft, um sie solider, stimmiger, offener und schöner zu machen, Ziele, die sich die Schweizer Typografen auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Es konnte nicht richtig sein, einem Buchstaben seinen letzten Schliff zu geben, während da unten Menschen mit Verbrennungen aus dem rauchenden Gebäude getragen wurden, und keineswegs alle lebend.
Marleen lernte damals das Schweizerdeutsch von David Jaccottet, einem Dreijährigen, und war über den Bueb und das Bärli noch nicht weit hinausgekommen. Sie verstand alsofast nichts von dem, was seit zwei Stunden gesprochen wurde. Es wurde geraucht, was sonst nicht erlaubt war. Das Haus gegenüber war inzwischen mit Flatterband abgesperrt; man hatte nur den Gehweg auf der Seite des Atelierhauses offen gelassen, wie Alain wusste, der sich mit Monique davongemacht hatte und gegen Mittag allein mit einem Dutzend daumennagelgroßer Törtchen zurückgekehrt war. Sieben Tote habe es gegeben. Die Stunde der Mittagspause war gekommen, und die Gruppe wurde stiller, flüsternd, rückte enger zusammen. Als Marleen begriff, dass sie beten würden, drehte sie sich auf ihren Mokassins schnell und leise zum Gang, an dessen Ende sich die Toiletten befanden.
Das Staunen
Nach Paris kam man als armer Migrant, als namenloser Künstler, als Spross des Mittelstands mit Ambitionen. So war es auch bei Marleen gewesen, die ihr Studium in Kassel nach dem sechsten Semester abgebrochen – oder, wie sie ihrer Mutter erklärt hatte, »unterbrochen« – hatte, um für viertausend Francs im Monat als typografische Assistentin zu arbeiten. Sie würde Proben ihrer Arbeit nach Kassel schicken, von Weingart Seminarscheine bekommen und dann, in ein oder zwei Jahren, am Ende eines Semesters eilig die Prüfungen absolvieren. Dies war der Part, den Lore Schuller, die selbst brav ihr Diplom gemacht hatte, nicht glauben wollte.
Passeraub hatte Marleen in einem zweiten Anlauf erläutert, dass der Aufttraggeber der Tempi Novi darauf bestehe, der Schriftfamilie den ultrafetten Schnitt hinzuzufügen. »Glauben Sie, dass eine Leseschrift eine Anwendung von Ultrafett braucht?«, hatte er gefragt und sie, wie zuvor, in die Klemme gebracht, Zustimmung und Ablehnung gleichermaßen verdächtig.
»In einem Katalog, zum Beispiel, um einen Slogan herauszuheben. Oder den Produktnamen.«
»Also schon!«
»Schon« hieß offenbar »doch«.
»Doch«, sagte sie kleinlaut.
»Na gut«, sagte Passeraub, väterlich. »Dann machen Sie für mich den Entwurf. Prägnante Beispiele, so wie Sie wollen.«
» Tempi Novi Ultrafett.«
»Jo-ho.«
Jede Schrift ließ sich irgendwie aufblasen. Aber Passeraubs Ideal einer Leseschrift war, dass man jedes Wort gegen dasselbe Wort in einer anderen Schriftstärke austauschen konnte, ohne viel Platz zu verlieren oder zu gewinnen. Am besten keinen. Das schien nahezu unmöglich. Andererseits lief der halbfette Schnitt, wie Passeraub ihn entworfen hatte, in der Tat kaum weiter als der magere. Sie ließ sich den gesamten Alphabetsatz auf Papier ausbelichten, vergrößerte das »H« und das »o«, halbfett, am Fotokopierer, schwärzte die Buchstaben nach, zeichnete sie von Hand mit Tusche ab – dies waren die Techniken, die sie kannte. Man soll eine Schrift, hatte Weingart gesagt, wie einen Menschen kennenlernen, nach und nach. Man kann sie sogar, hatte er leise ergänzt, für ihre Schwächen lieben.
Die Tempi Novi war serifenlos, aber keine dogmatische Schrift mit einem Kreis für ein »o« oder einem Kreuz für ein »t«. Das »a« war mit Dach gehalten wie in der Helvetica . Passeraub feierte die Bäuche von »b« und »p«, indem er die vertikalen Striche nur zart anlegte. Das »y« hatte seinen
Weitere Kostenlose Bücher