Nichts Weißes: Roman (German Edition)
ausschreitet, es aber aussieht, als schlenderte er?
Marleen hängt sich dran, geht ein bisschen schneller, holt auf. Bügelfalten, gestreiftes Hemd, Janker. Es könnte ja. Es könnte ein Landsmann sein. Wäre da nur nicht dieser Rucksack. Der spricht dagegen. Sonst könnte es Franz sein. Franz drei Jahre weiter. Mein Gott, wie hat sie ihn vermisst. Anfangs. Dann versucht auszulöschen. Später wieder zugelassen. Wenn nicht sogar verehrt. Einmal hat sie ihm eine Postkarte an die Adresse der Mutter geschickt, aber ohne Absender und ohne Text. Zwei Wochen Pein, weil nichts zurückkam. Der aufgeschobene Abschied. Ein gutes Wort. Sie spricht nicht sehr laut, aber er ist zum Greifen nah,
»Franz?«
Er bleibt auf der Stelle stehen, sie fällt in ihn hinein. Das Zitronentörtchen stürzt zu Boden. Sie tun sich nicht weh und sie küssen sich nicht, aber beides beinahe. Sie sehen sich in ihre erschreckten Gesichter.
Plakatieren verboten
Marleen war nicht ganz bei ihren Buchstaben dieser Tage. Sie war entweder mit Franz oder nicht mit Franz, und wenn sie nicht mit ihm zusammen war, dachte sie zumindest daran, schmückte es sich aus, verglich es mit früher. Das plötzliche Treffen an der Börse war das Schwierigste gewesen, fünf Minuten aufgeregtes Starren auf beiden Seiten, diese Dummheit, sich nicht zu umarmen, das Suchen nach Worten, die nicht weh tun. Schließlich hatte Franz gesagt, nach der Arbeit in der Bibliothek begehe er den Marais wie seinen eigenen Garten, und ob sie mitkommen wolle. »Was heißt denn das eigentlich?«, hatte sie ihn gefragt und auf die blassgrauen Buchstaben gezeigt, DEFENSE D’AFFICHER, die einst pechschwarz auf eine Hauswand geschrieben worden waren, unterlegt von einem weiß getünchten Band, von dem nur noch ein Hauch geblieben war.
»Plakatieren verboten!«, antwortete Franz.
»Ach!«
Sie malten sich das alte Paris aus, wie es einst gewesen war. Die Plakate vom Circus und von den Revuen auf Montmartre. Akkordeonspieler; Kinder, die mit Kreide die Straße markierten; hungernde Katzen in Rudeln. Bürger mit Melonenhüten, Herren im Frack. Schaufensterauslagen: Spitzen. Korsetts. Der Eingang zu einem Club, dekoriert als geöffneter Schlund eines Monsters. Die Strickerinnen, die Milchmädchen, die Tänzerinnen, die Huren, rauchend. Eine haushohe Wandbemalung: ein Mann im Profil, der ein Cognacglas zum Trinken neigt.
»Und es roch«, rief Franz.
»Es stank!«, brüllte Marleen.
Vor ihnen war ein alter Pudel an der langen Leine zurückgeblieben. Er hob das Bein. Auf dem Bürgersteig, dessen Neigung erst in diesem Moment sichtbar wurde, breitete sich eine Pfütze aus, während der Pudel davonlief. Franz und Marleen blieben stehen. Die Pfütze ging zunächst in die Breite, Zacken und Zinnen, schloss sich nach unten und verlief dann in einem Rinnsal.
»Kennst du den Rorschachtest?«, fragte Franz.
Er war Stammgast in der Brasserie Au Vide Gousse, ein ältliches Lokal im Gewirr der Straßen jenseits der Bibliothek, düster und verraucht. Sie wurden an einen kleinen, quadratischen Tisch gesetzt. Sie sahen einander an, sie sahen aneinander vorbei; sie beäugten sich, zwischendurch brachen sie in nervöses Lachen aus. Marleen dachte, wie unklug sie sei, ihr Herz an jemanden zu hängen, der sich für die Einsamkeit entschieden hatte, die Grübelei, für den Zweifel als Prinzip. Sie war versucht, ihn zur Rede zu stellen, warum er sie plötzlich und ohne Nachricht verlassen hatte,
»Ich bin so einsam gewesen, so furchtbar allein, von dir und von mir selbst und von allen guten Geistern verlassen. Die Küche, weißt du, die grüne Küche, habe ich rot gestrichen, blutrot, und am liebsten wäre ich gestorben in dieser Küche, ich bin nicht einmal mehr zu Weingart gegangen, ich wollte nichts mehr, nichts, bis Esme in der Tür stand und …«
Sie studierte stattdessen den vergilbten Zeitungsausschnitt in einem mattschwarzen Rahmen an der Wand über dem Tisch oder die erhabenen weißen Buchstaben, PERNOD 51 PERNOD 45, die auf einem meerblau lasierten Aschenbecher rund liefen. Wenn sie zu Franz hinsah, traf sie seine Augen, die ihr auswichen. Er schien sich zu fragen, wer sie war. Und sie selbst wollte gern wissen, wer sie sei, und warum sie eine andere war in seiner Gegenwart, Gefühle bis in die Zehenspitzen, ein Kitzeln auf der Kopfhaut, das unbegreifliche Rasen der Zeit. Vielleicht hatte sie versäumt, es ihm zu sagen, und nun war die Stunde gekommen:
»Es ist doch so, mein lieber Franz, dass
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