Nichts Weißes: Roman (German Edition)
Tanzfuß, das »i« hatte einen runden Punkt. Die Strichstärken waren in geheimnisvoller Weise minimal variiert.
Was für eine Anfängerin sie doch war! Noch nie hatte sie einen kompletten Schriftschnitt selbst entwickelt. Entweder gab es einen fetten Schnitt oder eben nicht. Hatte eine Schrift zu wenig Varianten, nahm man eine andere. Die Anwendungen, die Designerspielchen hatten alle Kräfte aufgesaugt, und eine gewisse kalligrafische Routine half jetzt nur insofern, als dass Marleen einen Strich zu Papier zu bringen wusste, wie sie es wollte – nicht so ähnlich. Natürlich wusste sie, dass der fette Buchstabe nach außen wie nach innen wächst, während er höher nicht werden soll. Ein bisschen wie die breiten Reifen eines Rennwagens. Am Mittag wartete sie, schüchtern, bei Furrer, bis der seine Aufgabe beendet hatte und sie bemerkte. Er betrachtete das »o« und sagte, »sehr schön. – Ach so, die Tempi Novi . Haben Sie denn nicht die originalen Entwürfe?Wenn Ihnen der Innenpunzen beim ›o‹ schon fast zuläuft, was machen Sie dann erst beim ›e‹? Sie tappen ja noch im Dunkeln!«
Marleen verdrückte sich in die Mittagspause. Sie fragte sich, ob dies eine Prüfung sei, die man nur bestehen konnte, wenn man resignierte. Wahrscheinlich warteten alle darauf, dass sie die Unmöglichkeit des Unternehmens einsah. Und erst wenn sie es zugeben würde, wäre sie eine von ihnen.
Als sie zurückkam, standen drei Schuber auf ihrem Schreibtisch. Sie enthielten, wie die Kürzel ahnen ließen, Passeraubs gesamte Zeichnungen der Tempi Novi im letzten Zustand, mager, halbfett und fett. Es waren nichts anderes als Bleistiftnotizen auf einem transparenten Träger, zwanzig Zentimeter hohe Konturen auf einer Linie. Sie begriff sofort, dass ihr dies zuvor gefehlt hatte. Sie nahm das »o« aus allen drei Registern und legte sie übereinander. Das hatte etwas vom Querschnitt einer Zwiebel. So konnte sie sich zumindest vorstellen, wie es in die Breite gehen würde. Am Abend hatte sie schon die erste Reinzeichnung für »Hono« . Mit dem Silberblick der Naharbeiter sah sie von ihrem Schreibtisch zur Türöffnung, in deren Gegenlicht jemand stand, die Locken überstrahlt, das Gesicht kaum zu entschlüsseln, wie fotografisches Korn. Das musste Passeraub sein. Er trat an ihre geneigte Arbeitsfläche, legte seinen Zeigefinger auf das »n« und sagte: »Den Einschnitt betonen!« Er lachte über sein eigenes Ungeschick, und weg war er.
Die Stadt ließ sich anschauen wie Kino, sie sah nicht zurück. Männer mit schmalen Gürteln über expandierenden Bäuchen. Frauen im Galopp auf klappernden Schuhen. Kinder in Schuluniformen, sich zum Abschied küssend. Bustüren, die sich zischend öffnen. Bäume mit Eisenkragen im Asphalt. Metropolitain. Tabac-Presse. Défense d’afficher. Da war ein Fuchteln und ein Schmatzen, ein Rufen und ein Augenzwinkern. An der Concorde stieg sie nicht um wie sonst, sondern ließ sich mit den anderen nach oben treiben. Die merkwürdige Lust, Männern in Anzügen zu folgen. Die sahen so aus, als wüssten sie, wo es hingeht. Es wurden immer mehr, je näher sie der Börse kam.
Marleen fragt sich, warum es Männer sind, denen man das Geld anvertraut. Warum es Männer sind, die sich Frauen kaufen, und nicht umgekehrt. Sie fragt sich, ob es Dinge gibt, die ganz für sich und unabänderlich sind. Oder ob alles beweglich ist. Und wenn alles beweglich ist, ob alles mit allem zusammenhängt. Sie ist so sehr in Gedanken, dass sie in der Konditorei nicht entscheiden kann, welches Gebäck sie nehmen soll. Monsieur le Confiseur bedient selbst mit weißer Haube. Die Konfusion der jungen Ausländerin mit diesem Blick, der durch die Dinge durchgeht, stört ihn gar nicht.
»Ein Himbeertörtchen steht für das Verlangen«, sagt er.
»Und das da?«
»Ein Blaubeertörtchen besiegelt die richtige Entscheidung.«
»Die da oben?
»Das sind Madeleines, Madame. Die Madeleine küsst die Erinnerung wach.«
Hinter ihr stehen zwei Kundinnen. Sie amüsieren sich.
»Was ist mit dem Zitronentörtchen?«
»Das Zitronentörtchen meint den Augenblick. Es öffnet ein Fenster in den Tag.«
»In welchen Tag?«
»In diesen, jetzt … Mademoiselle.«
Das nimmt sie und setzt ihren Weg in Richtung Marais fort. Und dann ist da einer, an den sie ihren Blick geheftet hat. Der ist soeben aus der Bibliothek gekommen, glaubt sie. Er streckt den Körper und den Geist. Er kehrt zurück ins materielle Leben. Wie macht er das, dass er so kräftig
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