Nick Stone - 01 - Ferngesteuert
die Morgendämmerung zu ahnen. Die Luft war frisch, aber man merkte, daß ein schöner, warmer Tag bevorstand. Es war angenehm, sich richtig strecken zu können, obwohl ich mich wegen meiner Nackenschmerzen noch immer
bewegte, als hätte ich ein Brett an den Rücken geschnallt.
Auf dem Stadtplan war zu sehen, daß es in Florence einen Bahnhof gab; nicht unbedingt nützlich, aber immerhin ein Anfang. Ich stieg wieder ein und sammelte die Handtaschen und Geldbörsen zusammen, um sie
wegzuwerfen. Lauter teure Stücke, teilweise sogar mit Monogramm. In einer der Handtaschen fand ich ein
Heroinbriefchen und einen in Alufolie verpackten kleinen Klumpen Haschisch. Die verwöhnten Jugendlichen
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waren offenbar Studenten gewesen, die in den
Osterferien über die Stränge schlugen, bevor das neue Semester begann. Zum Teufel mit ihnen, mir tat es nicht leid, sie beraubt zu haben. Ich mußte lachen, weil ich mir denken konnte, daß der Raubüberfall ihnen zu peinlich sein würde, um ihn anzuzeigen. Vermutlich saßen sie noch immer in ihrem Grand Cherokee, machten sich
gegenseitig Vorwürfe und überlegten, wie man ohne Zündschlüssel weiterfahren konnte. Ich warf den ganzen Krempel in den nächsten Abfallbehälter.
Wir fuhren zum Bahnhof weiter. Obwohl das
Stadtzentrum von Florence todkrank zu sein schien, wurden große Anstrengungen unternommen, um den
Patienten am Leben zu erhalten. Die historische
Innenstadt war renoviert worden, aber alle Geschäfte schienen nur Duftkerzen, parfümierte Seife und
Leinensäckchen mit getrockneten Blüten zu verkaufen.
Für richtige Menschen mit normalen Bedürfnissen gab es hier nichts mehr.
Wir erreichten den Bahnhof von Florence, der in jeder anderen amerikanischen Kleinstadt hätte stehen können.
Er war voller Obdachloser, die hier einen warmen
Schlafplatz fanden. Überall roch es nach Schweiß und Verfall. Auf den Bänken schliefen Betrunkene, denen sich kein vernünftiger Mensch nähern würde, wenn er nicht riskieren wollte, daß ihm der Kopf abgerissen wurde.
Ich sah mir den Abfahrtsplan an. Offenbar konnten wir mit dem Zug nach De Land fahren, um von dort aus mit dem Bus nach Daytona weiterzufahren. Inzwischen war 399
es kurz vor sechs Uhr; der Zug sollte in einer guten Dreiviertelstunde fahren.
Der schon geöffnete Fahrkartenschalter erinnerte mich sofort an den koreanischen 7-Eleven in Washington: überall Maschendraht und Gitterstäbe, deren weißer Lack an vielen Stellen abgeblättert war. Dahinter war das breite schwarze Gesicht, das mich nach meinem Fahrtziel fragte, kaum zu erkennen.
Fünfundvierzig Minuten später stiegen wir in den Zug, fanden unsere Plätze und ließen uns hineinfallen. Der Großraumwagen war nur ungefähr halbvoll. Kelly
schmiegte sich hundemüde an mich.
»Nick?«
»Was?«
Ich war damit beschäftigt, die anderen Fahrgäste zu beobachten. Die meisten sahen wie ich aus: übermüdete Erwachsene, die sich um Kinder kümmerten.
»Wohin fahren wir?«
»Zu einem Freund.«
»Wer ist das?« Diese Idee schien ihr zu gefallen.
Vermutlich hatte sie meine Gesellschaft satt.
»Er heißt Frankie und wohnt am Strand.«
»Machen wir bei ihm Urlaub?«
»Nein, soviel Platz hat Frankie nicht.«
Ich beschloß, die Unterhaltung fortzusetzen, weil Kelly bestimmt bald einnicken würde. Die rhythmischen Bewegungen und Geräusche des Zuges würden sie bald einschlafen lassen.
»Wer ist deine beste Freundin? Melissa?«
»Ja. Wir erzählen uns Sachen und versprechen uns, sie 400
keinem Menschen weiterzuerzählen.« Nachdem Kelly
mir versichert hatte, sie liebe Melissa unsterblich, fing sie an, mir ihre schlechten Seiten zu schildern, die
größtenteils damit zusammenhingen, daß sie mit einem Mädchen spielte, das Kelly nicht leiden konnte.
»Wer ist dein bester Freund, Nick?«
Diese Frage ließ sich leicht beantworten, aber ich dachte nicht daran, seinen wahren Namen zu nennen.
Falls wir irgendwann doch geschnappt wurden, sollte er nicht wegen der Erwähnung seines Namens
Schwierigkeiten bekommen. Die Morgensonne begann
heiß durchs Fenster zu scheinen; ich beugte mich über Kelly hinweg und zog das Rollo herunter.
»Mein bester Freund heißt … David.« Das war der
nächstbeste Name, der mir für Euan einfiel. »Wie
Melissa und du erzählen wir uns Sachen, die sonst niemand weiß. Zum Beispiel hat er eine Tochter, die ungefähr in deinem Alter ist. Aber das wissen nur David und ich … und jetzt du.«
Kelly gab keine Antwort. Sie
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