Nick Stone - 01 - Ferngesteuert
nicht los.«
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Ich preßte ihren Kopf gegen meine Schulter, stürmte die Betontreppe hinunter und hielt nach einem Fluchtweg Ausschau.
Vor uns lagen ein etwa vierzig Meter breiter Streifen unbebautes Gelände und ein zwei Meter hoher
Maschendrahtzaun, der alt und rostig aussah. Jenseits des Zauns standen die ebenerdigen Bürogebäude, durch die das Hotel von der Schnellstraße getrennt war. Diese teils aus Klinker, teils mit verputztem Mauerwerk erbauten Gebäude waren in den vergangenen drei Jahrzehnten in allen möglichen Stilen errichtet worden. Hinter ihnen hatten sich um die Müllcontainer herum alle möglichen Abfälle angesammelt.
Vor uns führte ein Trampelpfad durch das unbebaute Gelände auf eine Stelle zu, an der ein ganzes Feld des Maschendrahtzauns eingefallen oder heruntergerissen worden war. Vielleicht benutzten Hotel- und
Büroangestellte diesen Fußweg als Abkürzung.
Kelly wie bisher zu tragen, war ungefähr so, als trüge man einen Bergen-Rucksack vor dem Körper. Das war schlecht, falls ich schnell laufen mußte, deshalb schob ich sie nach hinten auf meinen Rücken und faltete meine Hände unter ihrem Gesäß, so daß ich sie jetzt huckepack trug. Am Fuß der Treppe blieb ich stehen, um zu
horchen. Hinter uns waren noch keine Rufe oder
Geräusche zu hören, die erkennen ließen, daß unsere Zimmertür aufgebrochen wurde. Logischerweise
verspürte ich den Drang, zu der Lücke im Zaun
hinüberzulaufen, aber es kam entscheidend darauf an, die Sache überlegt anzugehen.
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Ohne Kelly, die sich auf meinem Rücken
festklammerte, lange zu erklären, was ich vorhatte, ließ ich mich auf alle viere nieder und sah in Bodennähe vorsichtig um die nächste Ecke des Gebäudes. Sobald ich wußte, was sich dort ereignete, würde ich unter
Umständen eine andere Fluchtroute wählen.
Die beiden Autos standen jetzt am Fuß der
Außentreppe neben dem Cola-Automaten. Die
Scheißkerle waren offenbar oben. Ich wußte nur nicht, wie viele es waren.
Bei näherer Überlegung wurde mir klar, daß die
anderen von oben aus nur einen kleinen Teil des
unbebauten Geländes überblicken konnten. Also rannte ich los. Der Regen war leicht, aber beständig gewesen, und der Boden war ziemlich schlammig. Zum Glück lag hier außer alten Zeitungen, leeren Getränkedosen und einzelnen Hamburger-Schachteln nicht allzuviel Müll herum. Ich hielt weiter auf die Lücke in dem alten Maschendrahtzaun zu.
Kelly behinderte mich. Ich machte schnelle
Trippelschritte, ohne meine Knie allzusehr zu beugen –
nur genug, um ihr Gewicht abzufedern –, und lief mit nach vorn geneigtem Oberkörper, als hätte ich einen Rucksack zu schleppen. Sie stieß im Gleichtakt mit meinen Laufbewegungen unwillkürlich Grunzlaute aus, weil ihr durch die Stöße die Luft aus der Lunge getrieben wurde.
Wir erreichten den heruntergerissenen Abschnitt des Maschendrahtzauns, der im Schlamm vergraben lag. Ich hörte erst Autoreifen quietschen, danach die Geräusche 112
von Stoßdämpfern und einer sich verbiegenden
Karosserie. Aber ich sah mich nicht einmal um; ich stapfte energischer als bisher weiter und verlängerte meine Schritte.
Sobald wir die Lücke passiert hatten, lagen die
Rückseiten der Bürogebäude vor uns. Da ich den
schmalen Durchgang, den wir schon einmal benutzt
hatten, nicht erkennen konnte, wandte ich mich auf gut Glück nach links. Irgendwo mußte es einen weiteren Durchgang zur Schnellstraße geben.
Auf Asphalt kam ich schneller voran, aber jetzt begann Kelly abzurutschen. »Festhalten!« rief ich und spürte, wie ihre Arme sich verkrampften. »Fester, Kelly, fester!«
Aber das funktionierte nicht. Ich packte mit meiner linken Hand ihre Handgelenke und zog sie vor meinem Körper nach unten. So lag sie schön leicht auf meinem Rücken, und ich konnte die rechte Hand dazu benutzen, um mich bei jedem Schritt nach vorn zu pumpen. Mir kam es im Augenblick darauf an, schnell zu sein und einen guten Vorsprung herauszuholen. Dazu brauchte ich dringend einen Durchgang zur nächsten Straße.
Merkwürdig ist immer das Verhalten nicht speziell ausgebildeter Menschen, die verfolgt werden. Sie
versuchen unbewußt, eine möglichst große Entfernung zwischen sich und ihre Verfolger zu bringen, und
glauben, das sei in ländlicher oder städtischer Umgebung eine gerade Linie. Tatsächlich kommt es jedoch darauf an, wie ein verfolgter Hase möglichst viele Haken zu schlagen – erst recht in einer Groß- oder Kleinstadt. Ich
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