Nick Stone - 01 - Ferngesteuert
glauben, daß alle Geheimdienstagenten wie James Bond leben: schöne Frauen, Sportwagen,
Spielkasinos. Ich habe mir oft gewünscht, dieser Scheiß wäre wahr. In Wirklichkeit schuftet man, um an
Informationen heranzukommen, die man anschließend mühsam auswerten muß. Die nackte Tatsache, daß zwei Leute ein paar Treppenstufen hinaufgehen, bedeutet noch gar nichts. Auf die Auswertung kommt es an – die
Identifizierung dieser beiden Personen, die Deutung ihrer Körpersprache, die genaue Kenntnis aller bisherigen Vorgänge, die begründete Vermutung, wie es
voraussichtlich weitergehen wird. Daher muß man sich vorsichtshalber jede Kleinigkeit notieren, weil man nie weiß, was später wichtig werden kann. Da ist mir ein Sportwagen zehnmal lieber.
Das Bild wurde allmählich dunkler. Die
Straßenbeleuchtung trug dazu bei, es etwas aufzuhellen, aber die nun farblosen Gesichter der Leute waren kaum noch zu erkennen. Ich konnte Geschlecht und Alter der Menschen noch unterscheiden – aber nur mit äußerster Anstrengung.
Dann ging dieser Arbeitstag zu Ende, und alles wurde nacheinander stillgelegt: Leute, die auf dem Heimweg waren, machten das Licht in ihren Büros aus, so daß die Beleuchtungsverhältnisse immer schlechter wurden.
Zuletzt brannte nur noch im Eingangs- und
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Empfangsbereich und auf den Fluren Licht.
Ich ließ das Band mit normaler Geschwindigkeit
weiterlaufen, weil ich sehen wollte, ob ein Nachtwächter seinen Dienst antreten würde. Aber ich sah keinen.
Kelly war von dem neuen Spiel begeistert. Sie hatte vier Filmschauspieler, zwei der Spice Girls und eine ihrer Lehrerinnen erkannt. Keine schlechte Bilanz. Aber was war, wenn sie sich einbildete, tatsächlich jemanden zu erkennen? Dann konnte ich ihr nicht vorbehaltlos
glauben, sondern würde ihre Aussage mit gewisser
Vorsicht genießen müssen; schließlich war Kelly erst sieben. Aber ich hatte nichts zu verlieren, wenn ich ihr glaubte.
»Sollen wir morgen weiterspielen?«
»Ja, dieses Spiel gefällt mir. Ich habe viel mehr Punkte als du.«
»Stimmt. Und nachdem du so großartig gewonnen
hast, solltest du dich jetzt ausruhen, finde ich.«
Falls Kelly oder ich morgen jemanden auf dem Film erkannten, war das ein Bonus für mich, mit dem ich zu Simmonds gehen und vermutete Querverbindungen
beweisen konnte. Zugleich hieß das jedoch auch, daß ich das Gebäude näher erkunden mußte. Ich beschloß, es mir nochmals von außen anzusehen, damit ich meinen
Einbruch planen konnte.
Gegen elf Uhr schlief Kelly fest – wie üblich
vollständig angezogen. Ich zog die Steppdecke über sie, nahm die Schlüsselkarte mit und verließ das Zimmer.
Um nicht an der Rezeption vorbeigehen zu müssen,
benutzte ich den Notausgang. Ich trat auf die Straße 241
hinaus, ging nach rechts in Richtung Stadtautobahn und bog in die erste Querstraße ein. Um diese Zeit war der Verkehr bereits weniger dicht; der gedämpfte Lärm kam schubweise, nicht mehr als unaufhörliches Dröhnen. Ich bog noch einmal rechts ab und befand mich in der Ball Street.
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Obwohl mich hauptsächlich die Rückseite des Gebäudes interessierte, wollte ich mir zuerst noch einmal die Vorderfront ansehen. Ich wollte sondieren, ob es dort einen Nachtwächter gab, und mir vor allem eine genauere Vorstellung davon verschaffen, wie das Innere des Gebäudes aussah.
Ich blieb in der Einfahrt des Grundstücks gegenüber stehen. Falls jemand wissen wollte, was ich hier zu suchen hatte, würde ich vorgeben, betrunken zu sein und pinkeln zu wollen. Von meinem Platz aus konnte ich durch die beiden Glastüren hindurch den
Empfangsbereich sehen; dort drüben brannte noch Licht, dessen Widerschein die nassen Betonstufen und die Blätter der Stauden auf beiden Seiten der Treppe glänzen ließ. Ein Blick nach oben zeigte mir, daß hinter den Fenstern über dem Eingang ebenfalls Licht brannte. Das bedeutete, daß auch die Korridorbeleuchtung im ersten Stock eingeschaltet geblieben war.
Ich wartete ungefähr eine Viertelstunde auf irgendein Anzeichen für eine Bewegung. Gab es dort drüben einen 242
Wachmann? Saß er in einem der Räume im Erdgeschoß vor dem Fernseher? Machte er im ersten Stock seinen Kontrollgang? Ich sah niemanden. Also wurde es Zeit, die Rückseite des Gebäudes zu erkunden.
Ich kehrte um, bog diesmal jedoch nicht links ab, sondern wandte mich nach rechts in Richtung Potomac.
Dort befand ich mich auf einer schmalen Seitenstraße mit schlammigen Rändern und zahlreichen
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