Nick Stone - 03 - Verbrannte Spuren
St. Petersburg näher als Tallinn.
Ich holte das Pergamentpapier heraus, legte das Kreuz auf den angegebenen Punkt und sah mir an, was der Kreis bezeichnete. Er umgab eine kleine Gruppe von Gebäuden einige Kilometer südlich der Kleinstadt Tudu, die ihrerseits ungefähr 35 Kilometer südwestlich von Narva lag. Im Prinzip lag der Zielort mitten in der Wildnis: die ideale Umgebung für das Computerzentrum der Maliskija. Dort hätten die drei Finnen ihr Unternehmen aufziehen sollen; vielleicht hatten sie das nur nicht getan, weil es dort keine Pizzas zum Mitnehmen zu kaufen gab.
Bevor ich zur 17.30-Uhr-Fähre musste, blieben mir noch ein paar Stunden Zeit, deshalb schlug ich meinen Reiseführer auf und las nach, was es über die
Nordostecke Estlands zu wissen gab. Der reinste Alptraum. Zur Zeit des Kalten Krieges hatte Narva zu den Städten Europas gehört, die durch Umweltverschmutzung am meisten belastet waren. Zwei gewaltige Kraftwerke erzeugten genug Strom, um das massive Räderwerk der russischen Schwerindustrie in Gang zu halten, und stießen dabei unzählige Tonnen Schwefeldioxid und giftige Aluminium- und Magnesiumverbindungen aus. Ganz in der Nähe lag ein riesiger See, aber ich nahm mir schon jetzt vor, dort keinen Fisch zu essen.
Dem Reiseführer nach sprachen 90 Prozent der dortigen Bevölkerung russisch und waren somit nach Ansicht der estnischen Regierung russische Staatsbürger. Wer kein Estnisch beherrschte, konnte auch nicht estnischer Staatsbürger werden. Das Ergebnis war, dass unmittelbar an der estnisch-russischen Grenze zahlreiche Russen mit alten sowjetischen Pässen lebten, die in Estland bleiben mussten - in einem Land, das sie nicht als Staatsbürger haben wollte.
Von Tallinn aus fuhren täglich fünf Züge nach Osten. Manche fuhren direkt nach St. Petersburg und Moskau weiter, andere verkehrten nur bis Narva, das ungefähr fünf Zugstunden entfernt war. Gar kein Problem: Ich würde nach der Überfahrt in Tallinn im Hotel übernachten, dort meine Vorbereitungen treffen und morgens mit dem Zug weiterfahren. Das würde der einfache Teil sein.
Den Namen der Kontaktperson und die Adresse in Narva hatte ich inzwischen auswendig gelernt. Ich riss das Bleistiftkreuz aus dem Pergamentpapier heraus, wickelte es in die Haftnotiz und aß beides auf. Alles an diesem Job erinnerte an einen zweitklassigen Spionagefilm - warum also sollte ich mich nicht auch so verhalten? Den Reiseführer und die Landkarte behielt ich, weil ich mich als Tourist ausgeben würde. Falls jemand sich dafür interessierte, erforschte ich die ungeheuer reiche Kultur dieses Gebiets. Nun, das stand jedenfalls im Reiseführer. Ich konnte es kaum noch erwarten.
Um meine Reisevorbereitungen abzuschließen, ging ich ins Bad und ließ warmes Wasser ins Waschbecken laufen. Dann wickelte ich das dünne Stück Hotelseife aus und unterzog mich einer kleinen Aufgabe, die mir jedes Mal zuwider war.
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Ich folgte der Herde aus dem Wartesaal im Terminal und die Gangway hinauf an Bord einer großen Autofähre, die ohne weiteres nach Dover gepasst hätte. Als ich sah, dass wir alle durch einen Metalldetektor gehen mussten, war ich erleichtert, dass ich die P7 mit meinem restlichen Zeug in der Gepäckaufbewahrung am Hauptbahnhof gelassen hatte. Ich benutzte Nick Davidsons Reisepass. Die Beamtin, die ihn bei der Passkontrolle auf ihr Lesegerät legte, gehörte zu den wenigen Menschen, die sich jemals das Passbild angesehen hatten.
Nur wenige meiner Mitreisenden ohne Auto sahen annähernd so wohlhabend aus wie die Finnen, an die ich gewöhnt war. Ich vermutete, dass sie Esten waren. Alle schienen Kosakenmützen aus Webpelz und viel PVC mit Lederprägung zu tragen. Einige hatten lange Daunenmäntel an, wie Fußballtrainer sie tragen, aber diese hier waren wirklich alt und abgewetzt. Sie schleppten riesige Tragetaschen mit ihren Einkäufen, die von Wolldecken bis zu Reis in Großküchenpackungen reichten. In allen Fällen schien die ganze Familie mitgereist zu sein: Kinder, Ehefrauen, Großmütter, die alle auf Estnisch durcheinander schwatzten.
Ich hatte mich in eine stille Ecke zurückziehen wollen, um ein Nickerchen zu machen, aber an Bord merkte ich gleich, dass das unmöglich war. Die Luft war von dem Surren und Bimmeln von Spielautomaten und Videospielen erfüllt; dazu kam das Kreischen von Kindern, die, von ihren Eltern verfolgt, durch die Korridore tobten.
Während ich seitwärts weiterging, um Kindern und den Leuten auszuweichen,
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