Nick Stone - 03 - Verbrannte Spuren
in meiner Nähe zwei Wermutbrüder an, mit lauten, undeutlichen Stimmen die Welt zu verbessern. Als ich ein Auge öffnete, um nach ihnen zu sehen, gesellte sich gerade eine Stadtstreicherin zu ihnen, um an ihrer Diskussion teilzunehmen. Alle drei hatten schmutzige alte Gesichter mit Schrammen und blauen Flecken, als seien sie verprügelt worden oder im 450
Suff auf die Fresse gefallen. Jetzt lagen sie zu dritt inmitten eines Walls aus überquellenden Plastiktüten, die sie notdürftig mit Bindfaden verschnürt hatten, auf dem Steinboden. Jeder von ihnen hatte eine Dose in der Hand, die zweifellos das hiesige Spezialbier enthielt.
Ich schloss wieder die Augen und verfiel in einen unruhigen Halbschlaf, der ab und zu für wenige Minuten in richtigen Schlaf überging, aus dem ich beim geringsten Laut und der kleinsten Bewegung aufschreckte. Ich hatte keine Lust, ein zweites Mal überfallen zu werden.
Ein kräftiger Tritt in die Rippen ließ mich hochfahren.
Ich hatte noch immer bohrende Kopfschmerzen, aber wenigstens konnte ich wieder besser sehen. Ich sah eine Horde von Männern in Schwarz, die genau wie ein
SWAT-Team der amerikanischen Polizei aussah, mit
schwarzen Kampfhosen in Springerstiefeln, schwarzen Baseballmützen und schwarzen Nylonjacken mit großen poppigen Aufnähern. An ihren Webkoppeln hingen
Behälter, die todsicher CS-Reizgas enthielten. Sie schrien und brüllten, während sie mit ihren schwarzen
Schlagstöcken wahllos auf die Stadtstreicher
einprügelten. Für die Obdachlosen von Tallinn war dies offenbar das Wecken. Es hatte jedenfalls viel Ähnlichkeit mit einigen Weckmethoden, die ich beim Militär in der Grundausbildung kennen gelernt hatte.
Ich reagierte auf den Wink, indem ich mich langsam aufrappelte. Mein ganzer Körper schmerzte. Ich sah bestimmt wie ein Neunzigjähriger aus, als ich gemeinsam mit den anderen aus dem Bahnhofsgebäude schlurfte, und 451
konnte nur hoffen, dass meine Muskeln bald warm
wurden, damit die Schmerzen etwas abklangen.
Die eiskalte Morgenluft brannte auf meinem Gesicht und in meiner Lunge. Es war noch immer stockfinster, aber ich hörte jetzt viel mehr Betrieb als bei meiner Ankunft. Rechts von mir lag eine Hauptstraße mit noch spärlichem Verkehr. Die einzelne Straßenlampe auf dem Vorplatz brannte so schwach, dass sie sich die Mühe hätte sparen können. Vor dem Eingang parkten fünf sehr große, auffällig saubere schwarze Geländewagen,
vermutlich Land Cruiser. Auf ihren vorderen Türen prangte das dreieckige weiße Abzeichen, das ich schon auf den Rücken der Bomberjacken der Polizeibeamten gesehen hatte. Um mich herum wurde noch viel gebrüllt und gestritten, und ich sah, wie meine drei Freunde aus dem Debattierklub hinten in eines der Fahrzeuge
geworfen wurden. Vielleicht kamen die Schrammen
daher.
Ich ging weiter und erreichte die andere Seite des Gebäudes, auf der ebenfalls Leben herrschte. Bei der Ankunft war mir das nicht aufgefallen, aber hier befand sich ein Busbahnhof. Auf der großen freien Fläche standen Wartehäuschen und schrottreife, vollkommen verdreckte Busse. Vom Heck einiger Fahrzeuge stieg Auspuffqualm auf. Die in den Schlangen hinten
wartenden Leute riefen den vorn Wartenden etwas zu –
vermutlich eine Aufforderung, sich mit dem Einsteigen zu beeilen, bevor sie erfroren. In den Gepäckabteilen wurden Koffer, Holzkisten und mit Bindfaden
verschnürte Pappkartons verstaut. Die Fahrgäste schienen 452
überwiegend alte Frauen zu sein, die zu schweren
Mänteln Strickmützen und riesige Filzstiefel mit
Vorderreißverschluss trugen.
Das einzige Licht kam aus dem Bahnhofsgebäude und von den Busscheinwerfern, deren Licht sich auf dem vereisten Boden spiegelte. Wie aus dem Nichts tauchte eine Straßenbahn auf und rumpelte im Vordergrund
vorbei.
Das Bahnhofsgebäude, dessen Bürofenster im ersten Stock teilweise mit Brettern verschalt waren, war mit einer jahrzehntealten Schmutzschicht bedeckt. Nicht nur der Bahnhof, sondern seine gesamte Umgebung wirkte heruntergekommen und verwahrlost. Die Hauptstraße war mit Schlaglöchern übersät, und an vielen Stellen hatten sich Asphaltschollen gebildet, so dass die Autos unterschiedliche Fahrbahnniveaus bewältigen mussten.
Die Männer in Schwarz waren mit ihrer Arbeit fertig.
Einige der Stadtstreicher zogen in einer Gruppe über die Straße – vielleicht zur nächsten warmen Unterkunft –, während andere auf dem Busbahnhof zu betteln
begannen. Standen sie dort neben den
Weitere Kostenlose Bücher