Nick Stone - 04 - Eingekreist
viel lauter als die Detonation von vorhin. Vom Albert
Embankment drangen Schreckensschreie von Männern,
Frauen und Kindern herauf. Auf der Brücke stockte der Verkehr, und Fußgänger standen wie angewurzelt da,
während eine dichte schwarze Rauchwolke über den
First des Verteidigungsministeriums zog.
Ich schloss das Fenster, ohne mich noch weiter darum zu kümmern, was draußen geschah, klappte das
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Fernglasstativ zusammen und packte meine ganze
Ausrüstung so schnell wie möglich ein. Ich musste diesen Zug erreichen.
Sobald ich mein Zeug – auch den Schutzdeckel der
Rasierschaumdose – in die mitgebrachte Sporttasche
gepackt hatte, stellte ich den nicht abgespülten
Kaffeebecher auf seinem Wayne’s-World-Untersetzer
und das Telefon genau wieder dorthin, wo sie gestanden hatten, bevor ich auf dem Schreibtisch Platz für
Fernglas und Lunchbox gemacht hatte, wobei mir ein
Polaroidfoto zu Vergleichszwecken diente. Dann
kontrollierte ich die Übersichtsaufnahmen, die ich als Erstes gemacht hatte, nachdem ich hier eingebrochen war. Vielleicht stand ein Stuhl eine Handbreit zu weit rechts. Das war keine überflüssige Pedanterie. Solche Details konnten wichtig sein. Ich kannte einen Fall, in dem ein Agent sich durch etwas so Simples wie ein nicht ordentlich zurückgelegtes Mousepad verraten hatte.
Mein Gehirn begann von innen an meinen Schädel zu
hämmern. Irgendwie war das Bild, das sich mir bei
meinem Blick aus dem Fenster geboten hatte, eigenartig gewesen. Ich war nicht clever genug gewesen, um das zu merken, aber mein Unterbewusstsein hatte es
wahrgenommen. Aus leidvoller Erfahrung wusste ich,
dass es besser war, solche unterschwelligen Warnungen nicht zu ignorieren.
Als ich noch einmal aus dem Fenster sah, fiel es mir sofort auf. Statt die Rauchsäule rechts von mir
anzugaffen, konzentrierte die Menge ihre
Aufmerksamkeit auf das Krankenhausgelände links von 52
mir. Die Leute starrten zu den Feuerstellungen der
Scharfschützen hinüber und horchten auf das scharfe Peitschen von sechs oder sieben einzeln abgegebenen Schüssen …
Auf dem Embankment erklangen weitere Schreie, in
die sich das Heulen heranrasender Polizeisirenen
mischte.
Ich schob das Fenster ganz hoch, steckte meinen Kopf ins Freie und sah nach links zum Krankenhaus hinüber.
Eine ganze Flotte von Streifenwagen und Vans mit
eingeschalteten Blinkleuchten war oberhalb der
Feuerstellung der Scharfschützen mit offenen Türen am Embankment stehen gelassen worden. Und ich sah
uniformierte Polizisten, die hastig einen Kordon
bildeten.
Das war nicht in Ordnung. Das war oberfaul. Was ich dort unten beobachtete, war sorgfältig geplant und
vorbereitet worden. Die hektischen Aktivitäten der
Polizei waren viel zu gut organisiert, um eine spontane Reaktion auf einen Sprengstoffanschlag sein zu können, der sich erst vor wenigen Minuten ereignet hatte.
Man hatte uns gelinkt.
Nach drei weiteren Schüssen entstand eine kurze
Pause, bevor weitere zwei folgten. Dann hörte ich aus etwas größerer Entfernung am Fluss den dumpfen Knall einer Blendgranate, die in einem geschlossenen Gebäude hochging. Sie griffen die Feuerstellung von
Scharfschütze Drei an.
Ein Adrenalinstoß jagte durch meinen Körper. Bald
war ich an der Reihe.
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Ich knallte das Fenster nach unten. Mein Verstand
arbeitete auf Hochtouren. Der einzige Mensch außer
mir, der die Feuerstellungen der Scharfschützen kannte, war der Jasager, weil er wissen musste, in welche
Richtung er die Zielperson nach Möglichkeit zu drehen hatte, damit sie identifiziert werden konnte. Aber er wusste nicht genau, wo ich mich aufhalten würde, denn ich hatte es im Voraus selbst nicht gewusst. Theoretisch brauchte ich die Zielperson nicht selbst zu sehen, ich musste nur Verbindung zu den Scharfschützen haben.
Aber er wusste genug. Dass wir den Anschlag verpatzt hatten, war jetzt meine geringste Sorge.
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Über mir knatterten jetzt Hubschrauber, und auf der Straße heulten Polizeisirenen durcheinander, als ich leise die Bürotür hinter mir schloss und auf den breiten, hell beleuchteten Korridor hinaustrat.
Meine Timberlands quietschten auf dem glänzend
polierten Steinboden, als ich zu dem ungefähr sechzig Meter entfernten Notausgang am anderen Ende des
Korridors ging und mich dazu zwang, nicht zu rennen.
Ich konnte es mir nicht leisten, noch mehr Fehler zu machen. Vielleicht musste ich irgendwann rennen, aber jetzt war es noch zu früh.
Nach ungefähr
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