Nick Stone - 06 - Feind ohne Namen
saubere Socken heraussuchen und für sie da sein musste, wenn irgendwas schief ging, was in letzter Zeit fast der Regelfall war.
Er drehte sich um, schloss die Haustür hinter sich und sperrte sie zweimal ab. »Warum schaltest du dein Handy nie ein?«
»Ich hasse die Dinger. Ich lese nur meine SMS-
Nachrichten. Anrufe bedeuten normalerweise irgendein Drama.«
Wir schüttelten uns kurz die Hand, und er hielt seine Autoschlüssel hoch. »Ich habe ein Drama für dich. Wir müssen los.«
»Was ist passiert?«
Er ging voraus zu seinem Dodge. »Ein Anruf aus der Schule. Ihr Mathelehrer hat sie zur Rede gestellt, weil sie zur ersten Stunde zu spät gekommen ist, und sie hat ihn aufgefordert, sich zu verpissen.«
Die Blinker leuchteten zweimal auf, als er die Infrarot-Fernbedienung betätigte.
» Was sollte er tun?« Ich stieg vorn rechts ein.
»Ich weiß, ich weiß. Und das, nachdem sie letzte
Woche einfach aus dem Turnunterricht weggegangen ist.
Die Schule hat allmählich genug. Sie überlegt, ob sie Kelly ausschließen soll. Ich habe angekündigt, dass du heute auf Besuch da bist und sofort mit mir hinfahren wirst. Wir müssen uns um Schadensbegrenzung
bemühen.«
Der große Motor sprang an, und wir rollten rückwärts die Einfahrt hinunter.
»Weißt du, Josh, mir kommt’s manchmal so vor, als hätte ich in einem vergangenen Leben irgendjemanden ganz schlimm gekränkt …«
»Nicht nur in diesem, meinst du?«
Die Schule war nur ungefähr zwanzig Blocks entfernt.
Ich konnte mich nicht daran erinnern, ob Kelly zu Fuß hinging oder mit dem Bus fuhr. Wahrscheinlich weder das eine noch das andere. In Maryland durften schon Sechzehnjährige Auto fahren, und sie gehörte zu einer etwas älteren Clique.
Josh machte eine hilflose Handbewegung. »Ich habe Angst, dass sie mir entgleitet. Sie schleicht sich nachts heimlich aus dem Haus. Ich habe Zigaretten in ihrer Kommode gefunden. Sie ist so launisch und reizbar, dass ich nicht weiß, was ich zu ihr sagen soll. Ich mache mir Sorgen um ihre Zukunft, Nick. Letztes Mal habe ich mit der Schulpsychologin gesprochen, aber auch die wusste keinen Rat, weil sie nichts aus Kelly herausbekommt. Sie ist so verschlossen !«
»Mach dir deswegen keine Vorwürfe, Kumpel. Mehr
als du könnte niemand tun.«
Josh war halb Schwarzer, halb Puertoricaner. Seit ich ihn kannte, hatte sein Aussehen sich ziemlich verändert.
Als er in der Sonne am Grab von Kellys Angehörigen gestanden hatte, hatten sein kahler Kopf und die randlose Brille so hell geglänzt wie seine Zähne. Aber heutzutage fiel einem als Erstes die gezackte rosa Narbe auf seiner linken Wange auf, die an eine in der Pfanne aufgeplatzte Bratwurst erinnerte und an den Rändern mit kleinen angetrockneten Blutstropfen besetzt war, weil Josh noch immer Mühe hatte, sich um das Narbengewebe herum zu rasieren. Auch wenn er noch so viel von christlicher Vergebung schwatzte, während ich meinerseits
versuchte, mich von meinen Schuldgefühlen zu befreien, indem ich mir sagte, der Schaden sei nun einmal
angerichtet, hatte ich bei seinem Anblick doch jedes Mal ein so schlechtes Gewissen wie er gegenüber Kelly.
Zu einem blauen Sweatshirt trug er eine graue
Cargohose, wie sein Ausbildungsteam beim Secret
Service sie immer getragen hatte, und Laufschuhe von Nike. In der Vergangenheit hätte er dazu an seinem schwarzen Ledergürtel ein hellbraunes, ziemlich
abgewetztes Pistolenhalfter über der rechten Niere und links eine Ledertasche mit zwei Reservemagazinen und einen schwarzen Piepser getragen.
Vor fünf Jahren hatte er zu dem Secret-Service-Team gehört, das für den Schutz des Vizepräsidenten zuständig war, bis Geri ihn und die drei Kinder wegen ihres Jogalehrers verlassen hatte. Josh hatte ihr Haus in Virginia verkaufen müssen, weil er die Hypothek nicht mehr tilgen konnte, und war hierher nach Laurel
gezogen, um junge Agenten auszubilden. In dieser Zeit hatten wir kaum Verbindung miteinander gehabt, aber ich wusste, dass die ersten Jahre für ihn und die Kinder ein Alptraum gewesen waren. Damals hatte er die Lehre der wiedergeborenen Christen für sich entdeckt.
Mit dem Secret Service war jetzt Schluss für ihn. Wie er mir erzählte, hatte er vor einer einfachen Wahl gestanden: Wenn er nicht kündigte, würden die Kinder ihren Vater kaum jemals sehen. Jetzt war er ein Vikar oder Reverend in Ausbildung; die Gottessache hatte ihm eine neue Karriere verschafft. Er hatte noch ungefähr ein Jahr vor sich, bevor er
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