Nick Stone - 06 - Feind ohne Namen
Kindern mit Zahnlücken und verschorften Knien.
Josh merkte offenbar, dass ich nicht freiwillig
auspacken würde, deshalb hielt er mir als guter Christ auch die andere Wange hin. »Also, erzähl schon, Mann, was machst du in letzter Zeit?«
»Oh, mir geht’s gut. Neulich habe ich ein paar Wochen in England gearbeitet. War richtig komisch, bei der Einreise mit anderen Ausländern anzustehen. Aber von irgendwas muss man schließlich leben.« Das erinnerte mich daran, weshalb ich ihn ursprünglich hatte aufsuchen wollen. Ich zog den noch immer zugeklebten Umschlag aus meiner Bomberjacke und schob ihn unter Joshs
rechten Oberschenkel. »Kauf dir ein vernünftiges Auto, ja? Und ein Toupet.«
»Danke. Aber ich weiß eine bessere Verwendung
dafür, denke ich.«
Das glaubte ich sofort. Kelly war nicht die Einzige, die das Geld brauchen konnte.
Er fuhr eine Zeit lang schweigend weiter, dann beugte er sich nach vorn, nahm sein Handy von der Abdeckung über den Instrumenten und gab es mir. »Ruf die Funktion
›Namen‹ auf, okay, Nick? Unter ›B‹ findest du Billman.
Das sind die Nachbarn in Hunting Bear, die nebenbei das Haus betreuen.«
Ich fand die Nummer, ließ sie von dem Handy
anwählen und hörte das Klingeln am anderen Ende. Dann meldete sich ein Anrufbeantworter.
Josh zuckte mit den Schultern. »Wir versuchen’s
später noch mal.« Er sah zu mir herüber und lächelte schief. »Sie sind wahrscheinlich gerade auf einer Bürgerversammlung und beschweren sich darüber, wie wir die Immobilienpreise in ihrer Siedlung verdorben haben. Vielleicht hätten wir doch nachgeben und der Gemeinde das Grundstück billig verkaufen sollen. Kein Mensch würde jemals ein Haus mit dieser Vorgeschichte kaufen. Sollen sie’s abreißen und dort einen Spielplatz oder sonst was einrichten.« Das hatte einige Zeit gedauert, aber er gelangte allmählich zu meiner
Auffassung. »Auch Kelly könnte das auf verrückte Weise helfen. Als eine Art Schlussstrich, verstehst du?«
Er setzte den Blinker, um an der nächsten Ausfahrt von der I-95 auf die I-495, den Washingtoner
Autobahnring, abzubiegen. Auf großen Hinweistafeln blinkte ständig die Aufforderung, verdächtige
terroristische Aktivitäten sofort zu melden. »Was sollen wir mit unverdächtigen Aktivitäten tun, Kumpel? Sie einfach für uns behalten?«
Josh hatte die letzten Meilen offenbar damit verbracht, seine Gedanken zu sammeln. »Hör zu, Nick, ich sehe die Dinge folgendermaßen. Es ist nichts Neues, ich bin mir meiner Sache nur sicherer. Vor allem werden wir sie niemals aufgeben, was sie auch tut. Sie provoziert nur, weil sie allerhand zu bewältigen hat. Sie muss darüber hinwegkommen, dass ihre Angehörigen tot sind, dass sie sich im Stich gelassen fühlt. Und sie muss damit
zurechtkommen, bei uns zu leben. Auf ihrem Herzen lastet schrecklich viel, Mann.«
Ich klappte meine Sonnenblende herunter. »Ich habe sie nicht im Stich gelassen, das weiß Kelly. Sie weiß, dass wir beide der Überzeugung waren, sie sei bei euch am besten aufgehoben.« Ich hörte selbst, wie defensiv das klang.
»Du musst versuchen, die Dinge von ihrem
Standpunkt aus zu sehen. Auch wenn sie von Liebe
umgeben aufwächst, wird sie’s nicht leicht haben.« Er beugte sich nach vorn übers Lenkrad, um seinen Rücken zu strecken. »Sie entfremdet sich viele Leute, das weißt du. Das ist ihre Art der Lebensbewältigung. Sie zieht sich von uns zurück, bevor wir eine Chance haben, uns von ihr zurückzuziehen. Sie isoliert sich selbst. Wir müssen dafür sorgen, dass sie eine andere Methode findet, ihr Leben zu bewältigen. Eine gute Methode.«
»Du hast zu viel Dr. Phil gesehen, Kumpel.«
Josh ignorierte mich erneut. »Jeder von uns hat seine eigene Art, Krisen zu bewältigen, okay? Ich selbst glaube an Gott und weiß, dass er mich liebt. Das könntest auch du wissen, wenn du ihn nur ließest. Wenn du
irgendjemanden an dich heranließest.« Er zeigte
anklagend auf mich, während er versuchte, den
Lastwagen vor uns nicht zu rammen. »Du versuchst
immer nur abzulenken. Geht dir etwas zu nahe, versuchst du, das Thema zu wechseln, dich mit etwas zu
beschäftigen, einen Witz zu reißen – irgendwas, um davon wegzukommen. Diese Bemerkung über Dr. Phil
war wieder mal typisch. Du versuchst weiter, dich auszuklinken, nicht wahr? Yeah, das tust du – du klinkst dich aus.« Er wandte sich mir zu, und jetzt übernahm ich es, nach vorn durch die Windschutzscheibe zu blicken.
»Weißt du,
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