Nick Stone - 06 - Feind ohne Namen
Ich habe mich herumgeworfen und drei meiner Kumpel an einem der Oberlichter stehen gesehen. Es hätten aber vier sein müssen.«
Im nächsten Augenblick war tief im Inneren des
Gebäudes ein dumpfer Aufprall zu hören gewesen.
»Schon bevor ich einen Blick durch das Loch im Glas werfen konnte, wusste ich, dass John tot war. Das wussten wir alle. Wir sind zur Dachluke zurückgelaufen und die Treppe hinuntergerannt. Er hat totenstill dagelegen, und wir sind einfach abgehauen.«
»Ist die Polizei gekommen?«
»Am nächsten Tag war die Polizei mit einem
Großaufgebot da, aber keiner von uns hat zugegeben, dass wir mit John unterwegs waren. Wir sind uns alle wie Mörder vorgekommen. Ich hatte noch nie solche Angst gehabt.«
Kelly blickte zu mir auf. »Hast du heutzutage auch manchmal Angst?«
»Nicht nur manchmal.« Ich riskierte ein Lächeln.
»Und bevor du fragst: Ich habe absolut nicht die Absicht zu sterben, bevor ich sehr alt bin.«
»Aber keine Garantie dafür, stimmt’s?«
»Puh, das ist was für Josh und sein Bibelkolleg.«
Kelly runzelte die Stirn. »Nicht witzig, Nick. Ich weiß, dass es dir egal ist, was dir zustößt, aber mir ist’s nicht egal. Für mich ist es wichtig, verstehst du? Ich meine, was wäre, wenn Leute es auf dich abgesehen hätten, wie sie’s auf Daddy abgesehen hatten? Was würde dann aus mir werden?«
Ich ging vor ihr in die Hocke, sodass unsere Gesichter sich auf gleicher Höhe befanden. »Dann wäre immer noch Josh da. Die Kinder und er lieben dich.«
»Das weiß ich. Aber ich brauche dich , Nick. Mom hat Daddy und dich als ihre beiden starken Männer
bezeichnet. Jetzt ist nur noch einer von euch übrig.« Sie ließ die Seile los und berührte mein Gesicht mit
überraschend kalten Händen. »Wirst du mein starker Mann sein, Nick? Willst du?« Sie hatte Tränen in den Augen.
Bevor ich antworten konnte, ließ Kelly die Hände
sinken und starrte wieder ihre Laufschuhe an, was nur gut war, weil ich keine Ahnung hatte, was ich hätte sagen sollen. »Es gibt nicht viele Orte, an denen ich mich sicher gefühlt habe, seit … nun, seit ich allein bin. Ich habe sie mir neulich mal durch den Kopf gehen lassen. Erstens dein Haus in Norfolk. Weißt du noch, wie wir das Zelt in meinem Zimmer aufgestellt haben? Weil wir keine
Zeltheringe hatten, hast du’s einfach auf den Fußboden genagelt. Das war echt cool! Das hat mir gefallen.
Zweitens das Haus hier – manchmal. Und …« Sie sah mich kurz an. »Die Londoner Klinik, in die du mich gebracht hast …«
Ich drückte sanft ihre Schulter. »Dr. Hughes?«
Kelly nickte. »Sie hat alles verstanden.«
Als nun Schweigen herrschte, erkannte ich, dass es Zeit wurde, dass ich als ihr starker Mann fungierte. Josh hatte Recht. »Möchtest du noch mal über alles mit ihr reden?«
Ihr Blick leuchtete, als hätte ich einen Schalter umgelegt. »Könnte ich? Ich meine, wie?«
»Durch das zweifache Wunder von Flug und
Mastercard. Wenn du willst, können wir morgen dort sein.«
»Aber ich soll am Freitag mit Josh zum Bibelkolleg fahren und …«
Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. »Kein
Problem. Also, wir fliegen stattdessen nach England.
Dafür hat Josh bestimmt Verständnis. Wir können deine Großeltern besuchen, du kannst mit Dr. Hughes sprechen, und wir können etwas Zeit miteinander verbringen, nur du und ich.«
Kelly fiel praktisch von dem Reifensitz, schlang die Arme um meinen Hals und drückte mir strahlend einen dicken Kuss auf die Wange. »Ich fühle mich schon
besser.« Dann runzelte sie die Stirn. »Wie bist du hergekommen? Hat Josh dich hergefahren?«
»Yeah. Er ist unten bei den Geschäften und trinkt dort einen Kaffee.«
»Er weiß nichts von Disneyland, stimmt’s?«
»Das bleibt unser Geheimnis.« Ich grinste. »Wie bist du überhaupt hier reingekommen?«
»Ich habe mir den Schlüssel schon vor langer Zeit ausgeliehen und einen Nachschlüssel machen lassen, Dummkopf.« Sie lächelte über ihre eigene Raffiniertheit.
»Okay, gehen wir?«
Wir machten noch einen Rundgang über das
Grundstück, dann sperrten wir ab. Ein Vogel flog vom Rasen auf und schwang sich ins Himmelsblau, und ich rief Josh mit meinem Handy an, als wir aus der Einfahrt auf die Straße traten.
11
Bromley, England
Donnerstag, 8. Mai, 9.10 Uhr
Kellys Großeltern standen vor ihrem Bungalow aus den achtziger Jahren unter dem kleinen Holzschild mit der Aufschrift »Zu den Platanen«. Carmen machte weiter Wirbel. »Habt ihr euren
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