Nick Stone 06 - Feind ohne Namen
hatte.
Diesmal brauchte ich nur einen der Umzugskartons wegzunehmen. Sie saß dahinter an die Wand gelehnt.
»Hallo.«
Kelly trug ein grünes T-Shirt mit dem Firmenzeichen irgendeines Sportartikelherstellers, rot-weiße Laufschuhe und modisch geschnittene Jeans, die ihre Hüftknochen sehen ließen. Diesmal lag in ihrem Blick kein Entsetzen, sondern sie wirkte nur irgendwie traurig und müde und ein bisschen verwirrt, als versuche sie zu enträtseln, weshalb auch meine Augen gerötet waren.
»Hab ich dich endlich!«, sagte ich grinsend. »War nicht leicht, dich zu finden.«
Sie erwiderte mein Lächeln nicht. Ihr verschwollenes Gesicht mit Tränenspuren blieb mir zugekehrt, als ich auf sie zukroch.
Auch wenn sie sich im Augenblick elend fühlte, war sie doch so hübsch wie immer. Sie hatte von beiden Eltern das Beste geerbt: den Mund ihrer Mutter und die Augen ihres Vaters. »Das größte Lächeln diesseits von Julia Roberts«, hatte Kevin oft gesagt. Seine Mutter stammte aus Südspanien, und er selbst hatte wie ein Südländer ausgesehen: mit rabenschwarzem Haar, aber strahlend blauen Augen. Marsha hatte immer gefunden, er sehe Mel Gibson zum Verwechseln ähnlich.
»Hey, willst du nicht lieber rauskommen? Ich brauche etwas frische Luft.«
Kelly starrte mich an, als sei sie gerade von einem weit entfernten Ort zurückgekehrt und versuche nun zu begreifen, wie sich alles verändert hatte. Zuletzt bedachte sie mich mit einem kurzen traurigen Lächeln. »Tut mir Leid.«
Ich schob einen Karton zur Seite, damit sie leichter herauskriechen konnte. »Was tut dir Leid?«
Sie wirkte wieder geistesabwesend, als sei sie nicht ganz da. »Heute.« Sie zuckte mit den Schultern »Alles.«
»Schon gut, mach dir deswegen keine Sorgen. Hey, schaukelst du immer noch so gern?«
10
Ich schaltete mein Handy aus, als wir in den Garten hinter dem Haus gingen, und legte ihr einen Arm um die Schultern. Ich hatte Josh mitgeteilt, mit ihr sei alles in Ordnung, wir brauchten nur etwas Zeit. Er hatte gesagt, er fahre zu den Geschäften hinunter und trinke einen Kaffee. Ich solle ihn irgendwann anrufen.
Als ich Kelly letztes Mal in ihrem Versteck gefunden hatte, hatte ich sie an der Hand genommen und behutsam hinausgeführt. Dann hatte ich sie auf den Arm genommen und fest an mich gedrückt in die Küche getragen. Sie hatte so gezittert, dass ich nicht wusste, ob sie mit dem Kopf nickte oder ihn schüttelte. Als wir wenig später vom Haus wegfuhren, war sie vor Schock fast steif gewesen.
In der ersten Zeit ihrer Behandlung, die schon ewig lange zurückzuliegen schien, hatte Dr. Hughes mir die Situation meines Mündels erklärt. »Kelly hat frühzeitig lernen müssen, mit Verlust und Tod umzugehen, Mr. Stone. Wie kann eine Siebenjährige, die sie damals war, drei Morde begreifen? Einem Kind, das Augenzeuge von Gewalt wird, ist demonstriert worden, dass die Welt gefährlich und unberechenbar ist. Kelly hat mir erzählt, dass sie nicht glaubt, dass sie sich außerhalb eines Hauses jemals wieder sicher fühlen wird. Dafür kann niemand etwas, aber ihre Erfahrung hat ihr die Überzeugung vermittelt, dass die Erwachsenen in ihrem Leben außerstande sind, sie zu beschützen. Sie glaubt, die
Verantwortung dafür selbst übernehmen zu müssen - eine Aussicht, die ihr große Sorgen macht.«
Wir gingen zur Schaukel hinüber, und sie rutschte auf dem aus einem Autoreifen geschnittenen Sitz hin und her, bis sie bequem saß, während ich neben ihr auf dem Rasen lag.
»Stößt du mich an, Nick?«
Ich stand auf und stellte mich hinter sie. Anfangs saß sie nur passiv da, ohne selbst Schwung zu holen, aber dann schien ihr wieder einzufallen, was sie zu tun hatte.
»Was hast du mit deinem Finger gemacht?« Sie hatte ein Pflaster am rechten Zeigefinger, und die Haut darunter sah rot und entzündet aus.
»Ich habe in Physik etwas Dummes gemacht. Aber das verheilt schon wieder.«
Ich stieß sie eine Zeit lang schweigend an. Das gefiel mir. Es erinnerte mich an die schönen Stunden, die ich hier hinter dem Haus verbracht hatte.
»Das hat Daddy immer als Erstes gemacht, wenn er von der Arbeit gekommen ist«, sagte sie. »Erst hat er Mom einen Kuss gegeben, dann ist er rausgekommen und hat mit uns gespielt. Das war schön. Nicht alle Väter tun das.«
»Nicht alle Väter lieben ihre Kinder so sehr, wie er’s getan hat.«
Das gefiel ihr. »Mom hat uns Kekse und Kool-Aid gebracht. Manchmal sind wir alle bis zum Abendessen draußen geblieben.«
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