Nicodemus
diesem Moment trug der Wind das gleichmäßige Getrappel von Hufen herüber. Die Nachtgestalten erstarrten, als wären sie Steinskulpturen. Einige legten ihre Klauen an die fledermausähnlichen Ohren. Nun konnten sie das Galoppieren eines Pferdes deutlich hören.
Alle erschauderten. Sie wussten, was dort vom Dorf angeritten kam. Vor nicht einmal einer Stunde hatte dieses verderbte Ding den gleichen Weg in die andere Richtung genommen. Schlagartig fand in ihren öligen Herzen ein völliger Sinneswandel statt. Die Ungeheuer änderten ihre Haltung. Mit gespitzten Lippen und gespaltenen Zungenstießen sie zwischen Fang- und Stoßzähnen flüsternd hervor, was getan werden musste.
Nicodemus kämpfte gegen seine lähmende Angst an und versuchte, auf allen Vieren davonzukriechen. Doch die Furcht lastete schwer auf ihm und er brach zusammen. Das Mal in seinem Nacken stand in Flammen. Doch dann hatten die nachtblauen Schrecken eine Entscheidung getroffen: Sie lasen Nicodemus auf und trugen ihn zum Straßengraben. Dort türmten sie sich über ihn, wie Kinder, die mit ihrem Vater tollen. Sie waren fest entschlossen, ihn vollständig mit ihrer tiefblauen Haut zu bedecken.
Das Hufgeklapper wurde langsamer, das Pferd war offensichtlich in Trab gefallen. Dem dreigehörnten Troll fiel ein, dass der Index noch auf der Straße lag, also flitzte er zurück, nahm das Buch in seine knotigen Klauen und tauchte, kurz bevor ein Reiter mit seinem Pferd um die Biegung kam, wieder in den Haufen.
Nicodemus lag noch immer wie gelähmt unter den Traumgestalten, die reglos wie Tote verharrten. Obgleich eine Hand mit Schwimmhäuten sein rechtes Auge verdeckte, konnte er mit dem linken noch alles erkennen.
Vier weiße Läufe tauchten vor ihm auf, als sich das Pferd bis auf fünf Fuß näherte. Dann stieg der Reiter ab und zwei ausgetretene Stiefel kamen in Sicht.
Der Neuankömmling bellte mit barscher Stimme: »Ich weiß, dass du in der Nähe bist, Nicodemus Weal. Dein Keloid ruft mich.« Zögernd trat er einmal ums Pferd herum.
Hinter einem Schleier aus Angst erkannte Nicodemus Fellwroths Stimme.
»Gerade eben wurde die Strahlkraft des Keloids diffus. Irgendetwas stört. Dennoch wusste ich, dass ich dich hier finden würde. Du hast dir Zeit gelassen, Welpe. Ich musste in diesem jämmerlichen Weiler ausharren, bis ich dich den Hang hinabkommen spürte.«
Fellwroth humpelte die Straße entlang und sah sich suchend um. Beim Einatmen gab dieses Ungeheuer ein leises Pfeifen von sich.
»Beeindruckend, dieser Zauber, der dich tarnt und sogar die Magie des Mals verbirgt«, knurrte er. »Er muss in einer Sprache geschriebensein, die mir fremd ist. Du musst einen neuen Beschützer haben, denn wir wissen wohl beide sehr gut, dass dein minderbegabter Geist einen solchen Tarnzauber niemals zustande gebracht hätte.«
Fellwroth betrat nun die Wiese auf der anderen Straßenseite. Starr vor Furcht konnte Nicodemus nur zusehen, wie der weiße Rücken seines Feindes näher kam.
Das Ungeheuer hatte sich ein neues Laken umgehängt, doch es hinkte stark und der rechte Arm baumelte leblos herab. Es handelte sich immer noch um den gleichen Eisengolem, dem Nicodemus im Compluvium gegenübergestanden hatte.
Offenbar fand er keine Spuren im Gras, und so wankte Fellwroth unsicheren Schrittes zurück zum Pferd. »Dieser Körper ist schon zu mitgenommen. Mir bleibt nur noch wenig Zeit. Wahrscheinlich wird mich dieser Golem im Stich lassen, bevor ich dich aufspüre.«
Rasselnd atmete das Wesen ein. »Jetzt befindest du dich nicht mehr in Starhaven, die Spielregeln haben sich also geändert. Doch bist du mächtiger als ich dachte. Vielleicht können wir ja zu einer Einigung kommen.« Er hielt inne und atmete schwerfällig ein. »Welpe, noch hast du die Wahl. Und es ist von äußerster Wichtigkeit, dass du dich richtig entscheidest.«
Das Wesen kam nun direkt auf Nicodemus zu. »Wenn du weiterhin vor mir wegläufst, wirst du sterben.«
Die Stiefel näherten sich bedenklich. »Mir ist es lieber, du bleibst am Leben. Deshalb verrate ich dir jetzt auch, wie du den fehlenden Teil deines Geistes zurückerlangst.«
Fellwroth stand nun so dicht vor ihm, dass Nicodemus ein quietschendes Geräusch, wie von ungeölten Scharnieren, aus dem Inneren des Golems vernahm. War das das Herz des Ungeheuers?
»Ich nehme an, Shannon hat dir schon einmal von Primus erzählt«, sagte Fellwroth mit schleppender Metallstimme. »Bestimmt hat er dir auch gesagt, dass die erste Sprache
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