Nicodemus
vorsichtig die Treppen hinunterstieg. Einem einsamen Sonnenstrahl war es gelungen, durch die zertrümmerte Decke zu dringen und die untersten Stufen in Licht zu tauchen. Deidre trat durch den Strahl, und ihr Schwert leuchtete hellweiß. Ihren Umhang hielt sie vorne gerafft, in der bleichen Vertiefung lagen kleine, dunkle Früchte. Nicodemus eilte ihr mit dem Index im Arm entgegen.
»Klarer Himmel, kalt und windig«, flüsterte sie, nachdem sie sich gemeinsam dicht an eine Wand gekauert hatten. »Erinnert mich an die goldenen Herbsttage im Hochland.« Deidre saß im Schneidersitz, Brombeeren lagen in ihrem Schoß.
Nicodemus legte den Index beiseite und starrte gebannt darauf, wie Deidre einen kleinen Haufen Beeren zusammenklaubte und ihm in die Hand gab.
»Für John müssen wir auch noch welche übrig lassen«, sagte er.
Der Hüne lag auf der gegenüberliegenden Seite zusammengerollt auf Nicodemus’ Umhang. Ihn am Morgen zum Schlaf zu bewegen, hatte sie einige Anstrengung gekostet.
Kurz nachdem Nicodemus Deidre und John in die Ruinenstadt geführt hatte, war Johns Erinnerung mit Pauken und Trompeten zurückgekehrt. Anfangs hatte er jedes Mal aufgeschrien, wenn Nicodemus ihn berühren wollte. Doch am Ende ließ er sich sogar in den Arm nehmen. Dann hatte John immer wieder einen Namen genannt: »Devin … Devin … Devin.«
Nicodemus hatte mit ihm geweint, und schließlich waren sie beide vor Erschöpfung eingeschlafen.
»Ich habe ein paar Schlingen ausgelegt«, raunte sie ihm leise zu und stopfte sich zwischendurch immer wieder eine Beere in denMund. »Mit ein wenig Glück erwartet uns heute Abend ein Hasenbraten.« Prüfend sah sie Nicodemus an. »Jetzt, wo wir besser über die Chthonen Bescheid wissen, ist dir da etwas eingefallen hinsichtlich des Traums, von dem du mir erzählt hast, dem, in dem Fellwroth von Efeu und Schildkröten umgeben war? Irgendeine Vermutung, wo sich sein richtiger Körper befinden könnte?«
Nicodemus schüttelte den Kopf. »Ich dachte bislang, der Körper wäre in der Höhle, wo die Spindle-Brücke auf den Berg trifft. Mit den Efeumustern und den Sechsecken im Fels muss es doch irgendeinen Zusammenhang geben. Aber nach dem Bau der Brücke war die Öffnung im Berg verschwunden, das habe ich in meiner Vision ganz deutlich gesehen. Außerdem hat Shannon den Fels gründlich untersucht und keinen Zugang gefunden. Es muss also noch eine andere Verbindung geben. Ich komme hier einfach nicht weiter, und die Geister kann ich erst heute Abend wieder fragen.«
Er steckte sich eine Brombeere in den Mund und betrachtete die Tätowierungen auf seinen Händen und Armen. Ihn befremdete der Gedanke, dass sich Garkex und die anderen Nachtwesen auf seinem Körper eingeschrieben hatten.
Noch immer musterte Deidre ihn eindringlich. »Womöglich spielen die Träume gar keine Rolle. Wenn wir erst einmal Boanns Schrein erreicht haben, werden wir in Sicherheit sein. Wann wirst du so weit sein, dass wir nach Gray’s Crossing aufbrechen können?«
Nicodemus zögerte mit der Antwort, zwischen den Lippen hatte er eine Beere. »Als mir der Golem das letzte Mal begegnet ist, kam er geradewegs aus Gray’s Crossing.«
Er hatte Deidre von diesen seltsamen Träumen erzählt, auch von seiner Begegnung mit Fellwroth und dem chthonischen Geist, doch vom Kampf der beiden Lager und ihren Versuchen, einen Primus-Zauberschreiber heranzuziehen, hatte er sie bislang noch nichts wissen lassen.
»Fellwroth hat ein Auge auf Gray’s Crossing«, fuhr er fort. »Womöglich rechnet er damit, dass wir versuchen werden, zu Eurer Göttin zu gelangen.«
Deidre schüttelte den Kopf, ihr rabenschwarzes Haar glänzte selbstim Halbdunkel. »Ein Dutzend getreuer Anhänger bewacht den Schrein, zwei davon sind Druiden. Zudem ist er gut versteckt, Fellwroth wüsste gar nicht, wo er suchen sollte.«
Mit großen Augen sah sie ihn an, eine Röte flog über ihre dunklen Wangen. »Nicodemus, wir haben es fast geschafft. Meine Göttin spürt deine Nähe bereits. Sie sehnt sich danach, dich zu beschützen.«
Nicodemus schob sich die Beere nun endgültig in den Mund und zerkaute sie langsam. »Deidre, wer ist Eure Göttin?«
Ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen. »Boann vom Hochland, keine sehr mächtige Gottheit, aber eine Wassergöttin von unübertroffener Schönheit. Sie ist die Bewohnerin der geheimen Bäche und Ströme zwischen Fels und Heidekraut.«
Nicodemus vergegenwärtigte sich noch einmal, was Fellwroth ihm mitgeteilt
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