Nicodemus

Nicodemus.«
    Voller Verachtung rümpfte er die Nase. »Obwohl ich dumm genug war, einzuwilligen, habe ich dennoch eine Vorsichtsmaßnahme getroffen: Ich habe den Menhir mit einem Schutzschild versiegelt. Der Schild war stark, doch ein winziger Zauber konnte hindurchschlüpfen, sofern man meinen Schreibstil haargenau kannte. Irgendwie hat der Smaragd dieses Wissen aus meinen Gedanken gestohlen und es an Boann weitergegeben. Und im richtigen Moment muss ihr der Smaragd ein Zeichen gegeben haben, zuzuschlagen, so dass ich den Stein fallen lassen würde.«
    Nicodemus legte die Stirn in Falten. »Aber sie hätte doch nichts von dem Smaragd wissen können. Nur Ihr, Fellwroth, wusstet doch von dem Stein. Ihr und natürlich …« Er schreckte davor zurück, den Namen auszusprechen: Taifon. Nicodemus überkam kaltes Entsetzen.
    »Du siehst also, weder dem Mädchen noch der Göttin ist zu trauen«, beharrte Fellwroth.
    »Du darfst ihm nicht glauben, Nicodemus«, drängte Deidre, schwer atmend hob und senkte sich ihr Brustkorb. »Es ist schon ein Jahr her, seit ich mich an Boann versündigt habe, und inzwischen habe ich meine Schuld so gut wie wettgemacht …«
    »Deidre, hier stimmt etwas nicht«, unterbrach Nicodemus sie. »Hört mich an, vor einem Jahr hat Fellwroth Taifon getötet. Kurz darauf begannen Eure Anfälle.«
    Abermals schüttelte Deidre den Kopf. »Das wissen wir doch bereits, Nicodemus. Wir wissen, dass Boann zugesehen hat, wie Fellwroth den Dämon tötete. So hat sie auch von dir erfahren und mich deshalb ausgesandt, dich zu retten.«
    »Nein, Deidre«, sagte Nicodemus und näherte sich ihr behutsam.»Das wissen wir nicht mit Gewissheit, wir vermuten es lediglich. Aber was wäre, wenn das gar nicht stimmt? Wenn es Taifon gelungen wäre, Boann im Fluss zu infizieren? Ihr habt uns doch selbst erzählt, dass Boanns Schrein für gewöhnlich in den Hochlandflüssen steht.«
    Fellwroths purpurrote Augen traten ihm aus dem Kopf. »Boann hat diesen Fluss bewohnt? Deidre hat mir weißgemacht, die Göttin käme aus der Stadt. Schnell, Nicodemus, wir müssen weg von dem Menhir. Er enthält nicht mehr Boanns Seele!«
    Deidres Schwerthand begann zu zittern.
    Fellwroth redete unablässig weiter. »Nicodemus, Shannon, wir müssen fort von hier. Es gibt Schlimmeres als den Tod. Die Göttin ist nicht mehr im Schrein! Wir müssen vor Taifon fliehen!«
    »Deidre …«, rief Shannon.
    Doch da rammte Deidre ihm schon blitzschnell ihren Ellenbogen ins Gesicht, und dann hieb sie Fellwroth das Schwert in den Schädel.
    Das Numinusrechteck auf Fellwroths Stirn zersprang und sandte Wellen der Macht durch die Höhle.
    Nicodemus wurde umgerissen und verlor das Bewusstsein.
    Als er die Augen wieder aufschlug, lag er auf dem Rücken und starrte auf einen Schwall glühender Numinusprosa, die von Fellwroths Leiche zum Schrein strömte.
    Er improvisierte einen Gegenzauber in seinem Unterarm und sandte ihn gegen die Textflut aus. Doch sein Text schrumpelte in der Luft zusammen und fiel herab. Wie betäubt vor Schreck beobachtete Nicodemus, wie der Zauber auf dem Boden zerschellte. Wie konnte er sich nur verschrieben haben?
    Er blickte auf seine Hände hinab – sie waren leer.
    Der Smaragd war verschwunden.

Kapitel 44
    Ein Beben erschütterte die Stufen unter Amadis Füßen.
    Behutsam schob die Wächterin die riesigen Eisentüren auf, die zur Spindle-Brücke führten. Vor ihr lag die mondbeschienene Brücke mit den dahinter sich schwarz auftürmenden Bergen. »Sichert den Zugang«, befahl sie.
    Die zwölf Wächter, die sich freiwillig für diesen Einsatz gemeldet hatten, schwärmten aus. Allesamt waren sie ausgezeichnete Zauberschreiber: zehn Zauberer und zwei Zaubermeister. Drei trugen Zäsur-Zauberstäbe, ein weiterer einen Tundernstab. Die übrigen waren mit Zauberbüchern bewaffnet, deren Seiten zum Bersten mit Kriegstexten gefüllt waren.
    Die Bibliotheksvorsteherin und der Rektor hatten sich dem Trupp als Beobachter angeschlossen.
    Simple John trat neben Amadi und deutete in die Ferne. »Dort!«
    Mit den Augen folgte sie seinem Finger, der auf den Übergang zwischen Spindle-Brücke und Berg zeigte. In der Brücke klaffte ein Loch, aus dem goldenes Licht drang.
    Ein Raunen ging durch die Wächter. Irgendjemand musste im Inneren des Berges einen machtvollen Numinuszauber heraufbeschworen haben.
    »Kale«, verfügte Amadi, »bleib du mit John und den Beobachtern hier. Der Rest rückt langsam mit mir vor. Haltet die Reihen geschlossen,