Nicodemus
du schon darauf wartest, unterrichten zu dürfen und ausgerechnet jetzt ist es so weit. Angesichts der Ereignisse in Trillinon mag diese Aufgabe banal erscheinen, aber es ist sehr wichtig« – er drückte Nicodemus’ Schulter bedeutungsvoll – »sehr wichtig, dass du einen guten Eindruck machst. Verstehst du mich?«
»Ja, Magister«, sagte Nicodemus und rief sich in Erinnerung, dass der Zaubermeister gesagt hatte, die Wächter würden ihn beobachten.
»Gut«, sagte Shannon und ließ Nicodemus’ Schulter los. »Bei den Neuigkeiten wird wohl niemand etwas dagegen haben, dass du unterrichtest. Die Neophyten sind noch junge Hüpfer, keiner über dreizehn. Deine Schreibschwäche spielt also keine Rolle. Das Klassenzimmer befindet sich im Bolide-Institut, im dritten Stock auf der Westseite. Leg den Schülern in groben Zügen die Grundlagen der Kompositionslehre dar. Nach dem Unterricht gehst du direkt in mein Quartier und schläfst dich vor dem Mittagessen noch mal aus. Ich habe ein Stundenglas, und die Passwörter für meine Tür findest du im Klassenzimmerschrank. Verwende beides. Für die Arbeit heute Nachmittag musst du ausgeruht sein.«
Auch wenn er durch die furchterregenden Nachrichten nun hellwach war, brannten Nicodemus dennoch die Augen vor Erschöpfung. »Ja, Magister.«
»Nach dem Aufwachen isst du zu Mittag und kommst dann zu mir.«
Nicodemus atmete tief durch. Er würde heute tatsächlich unterrichten müssen, trotz all der entsetzlichen Enthüllungen.
Shannon lachte leise. »Ich weiß, es mag dir unmöglich erscheinen, aber du musst alles, was heute passiert ist, vergessen und dich ganz dem Unterricht widmen. Wenn du Freude am Unterrichten hast, werden sie Freude am Lernen haben. Bist du aufgeregt?«
Nicodemus gestand es ein, doch »schockiert und überwältigt« würde es »weitaus treffender beschreiben«.
Shannon schmunzelte. »Begreiflicherweise, aber lass es dir nicht anmerken, sonst putzen dich die Schüler weg wie ein Rudel Werwölfe. Sei im Zweifelsfall lieber zu forsch.« Shannon war berühmt für seinen mitreißenden Unterrichtsstil.
Und so beschloss Nicodemus, es seinem Mentor gleichzutun. Dafür musste er seine wachsenden Befürchtungen, aber auch seine Hoffnungen hinsichtlich der Prophezeiung unterdrücken.
»Na dann«, sagte Shannon mit einem Nicken. »Ab mit dir, sonst kommst du noch zu spät.«
Nicodemus wandte sich in Richtung Treppenhaus.
»Oh, mir fällt da noch etwas ein«, rief Shannon ihm hinterher.»Du solltest wissen, dass einer der Jungen immer ein bisschen Ärger macht und …« Die Stimme des alten Zauberers erstarb.
Nicodemus blieb stehen und blickte sich um.
Shannon runzelte die Stirn. »Achte auf ihn, vielleicht ist er auch ein Kakograph.«
Kapitel 13
Nicodemus trabte durch das Sonnenlicht, das in gebündelten Strahlen durch die rechteckigen Fenster fiel. Der Himmel strahlte im schönsten Blau, ganz so als sei er glasiert worden. In die frische Herbstluft hatte sich der Rauch der Frühstücksfeuer gemischt.
Seine erste Unterrichtsstunde in Kompositionslehre, und er würde auch noch zu spät kommen.
Nicodemus versuchte, sich auf die vor ihm liegende Stunde zu konzentrieren, doch seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Die wirkliche Welt kam ihm so unwirklich vor. Wächter aus dem Norden hielten ihn für fähig, einen Mord begangen zu haben. Ein nicht menschlicher Mörder war aus unbekannten Gründen hinter ihm her. Seine verloren geglaubte Hoffnung, die Prophezeiung des Erasmus zu erfüllen, war zurückgekehrt. Und als Reaktion darauf …
… als Reaktion darauf würde er nun die jungen Hüpfer in die Kunst des Zauberschreibens einweisen.
Das alles erschien ihm irrsinnig.
Doch der Magister wusste schon, was er tat, sagte er sich, bog um eine Ecke und lief eine breite Treppe hinauf. Schließlich war Shannon der Zaubermeister und er nur sein kakographischer Lehrling. Wenn sich der alte Zauberer mit den wahrhaft furchteinflößenden Kräften wie übereifrigen Wächtern, feindlichen Fraktionen und nicht menschlichen Mördern herumschlug, sollte er selber doch zumindest in der Lage sein, mit einem Haufen Dreizehnjähriger fertigzuwerden.
Just in diesem Augenblick hatte er die Tür zum Klassenzimmer erreicht und trat ein. Ein ordentlicher Raum, quadratisch, mit Tischreihen in Reih und Glied. An der einen Seite die großen Rundbogenfenster, die Wände weiß getüncht.
Die zwei Dutzend Schüler hingegen, in ihren Gewändern der Neophyten, konnte man kaum als
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