Nicodemus

»Der Mörder hat gedroht, den anderen Jungen im Speicherturm etwas anzutun. Ich habe die Sprachwehre um den Turm herum verdoppelt und angeordnet, dass kein Kakograph Starhaven verlassen darf.«
    Shannon kniff die Augen zusammen. »Das Problem ist nur, dass ich unter Mordverdacht stehe und die Wächter allem misstrauen, was ich sage. Wenn ich sie bitte, die Jungen vom Speicherturm zu beschützen, werden sie es für einen Trick halten und ablehnen. Jedoch wird es mir vielleicht gelingen, an Informationen zu kommen, die Magistra Okeke zwingen werden … Nicodemus, was ist mit dir?«
    Nicodemus atmete nun zwar wieder gleichmäßiger, aber dennoch schien sich alles um ihn langsam zu drehen. »Wer ist der Mörder?«, flüsterte er.
    Shannon schürzte die Lippen. »Ein Wesen, das weder Mensch noch Geschöpf ist. Aber das können wir jetzt nicht besprechen, während wir beobachtet werden. Zwei Stunden vor Mitternacht, bevor wir uns an die Forschung machen, warte ich im Compluvium auf dich. Weißt du, wo das ist?«
    »Zwischen dem Sataal-Plateau und der Spindle-Brücke.«
    »Ja, Azure. Ja. Guter Vogel«, schmeichelte Shannon, dann senkte er die Stimme wieder. »Im Compluvium erzähle ich dir Genaueres. Von jetzt an werden die Wächter dich auf Schritt und Tritt bewachen. Ihre Gegenwart wird den Mörder fernhalten, aber sollten sie dir die Schuld an Noras Tod geben, werden sie sofort einen Hexenprozess einleiten.«
    Nicodemus ballte die Fäuste. (Unter Zauberern galt jeder Zauberschreiber, der seine Prosa für bösartige oder unrechtmäßige Zweckenutzte, als »Hexe«. Es gehörte zu den Aufgaben der Wächter, Hexen zu verfolgen und ihnen den Prozess zu machen, um solche Verbrecher den Händen der Gerechtigkeit zu übergeben. Doch da die Wächter auch gleichzeitig die Richter in ihren Prozessen waren, wurden die Angeklagten oft zum Tode verurteilt, ob sie nun schuldig waren oder nicht.)
    »Auch wenn es dir schwerfällt, musst du einen entspannten und harmlosen Eindruck erwecken. Die Wächter werden dich ständig beobachten.«
    »Magister, dabei fällt mir ein, als Ihr draußen wart, hat mir die Druidin seltsame Dinge offenbart.« Und rasch gab er Deidres Worte wieder.
    Shannon kaute auf seiner Unterlippen. »Schwer zu sagen, ob Deidre mit dem Keloid und dem Fluch recht hat, aber auch ich habe mittlerweile den Verdacht, dass du mit der Prophezeiung verbunden bist.«
    »A-aber selbst der Provost glaubt doch, ich sei gebrandmarkt.«
    »Das können wir jetzt nicht besprechen. Hör zu, es gibt noch einen weiteren Grund, weswegen du unschuldig erscheinen musst. Magistra Okeke und weitere Gesandte aus Astrophell gehören womöglich zu den Prophezeiungsgegnern. Die Anhänger dieser Gruppe glauben, dass sich ein Anti-Halkyon, ein Meister des Chaos, erheben wird. Sollte es ihnen jemals in den Sinn kommen, dass du dieser Anti-Halkyon sein könntest, sind wir beide binnen einer Stunde tot. Wir müssen sie davon überzeugen, dass du ein ganz normaler Kakograph bist.«
    »Aber wie könn …«
    »Sch!« Shannon tat so, als brächte er den Vogel zum Schweigen. »Du darfst es niemandem sagen – keinem anderen Zauberer, nicht John, und Devin schon gar nicht.«
    Bei Devins Hang zum Tratsch konnte Nicodemus nur zustimmen.
    »Also, sobald Azure den Schnabel hält, müssen wir uns über die Nachrichten aus Trillinon unterhalten, das erwartet Amadi.«
    Genau auf dieses Stichwort hin hörte der Schutzgeist mit dem Gekreische auf. Mit Hilfe des Schnabels, den der Papagei in die Tiefenvon Shannons Robe versenkte, hievte er sich hoch auf die Schulter des alten Zauberers und begann sich das flaumige Gefieder auf dem Rücken zu putzen. »So ist es fein, Azure«, verkündete Shannon. »Es tut mir aufrichtig leid, Nicodemus, aber ich habe erschreckende Neuigkeiten.«
    Nicodemus schielte über Shannons Schulter zur Wächterin hinüber; sie hatte ihr Gespräch beendet und beobachtete nun.
    »Trillinon wurde offenbar von einem grausamen Geschöpf heimgesucht«, sagte Shannon. »Feuer und Tod regieren nun die Stadt. Ein Teil von Astrophell ist niedergebrannt und viele Zauberer aus dem Norden haben durch diesen monströsen Zauber ihr Leben verloren.«
    »Was für einen Zauber?«
    »Einer, den wir nicht verstehen.« Shannons Miene verfinsterte sich. »In den Berichten ist die Rede von …« Azure riss sich eine Feder heraus, ein Zeichen größter Sorge. »Azure!«, schalt sie der Zaubermeister, auch wenn er der Vogeldame gleichzeitig beruhigende Sätze