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Nicodemus

Nicodemus

Titel: Nicodemus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blake Charlton
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sehen, wenn man sie fließend beherrscht.«
    Die Klasse lachte, Derrick am lautesten von allen.
    Als die Schüler sich wieder beruhigt hatten, begann Nicodemus von Neuem. »Also jedenfalls, indem ich die Hand … so … blitzschnell öffne, setzte ich den Zauber frei. Wenn ihr Magnus beherrschenwürdet, dann könntet ihr eine leuchtende Zeile silberner Runen sehen, die in der Luft zittert wie ein Band im Wind.«
    Streng sah er seine Schüler an. »Als ich gerade eben den Zauber losgelassen habe, haben manche von euch vielleicht ein entferntes Glockenläuten gehört oder eine leichte Übelkeit verspürt. Anderen kommt das Klassenzimmer womöglich wärmer oder heller vor. Das ist kein Zufall. Ihr spürt den Zauber, könnt ihn aber nicht einordnen. Ein für die Magie empfänglicher Geist verschiebt die Wahrnehmung eines unbekannten oder verhüllten Zaubertextes auf die normalen Sinne. Dieses Phänomen nennt man Synästhesie. Ein schwieriges Wort, zwei teuflische Trochäen. Ich möchte, dass wir es alle gemeinsam sagen: SÜN-es-TÄÄ-sii.«
    Monoton betete die Klasse ihm nach.
    Zufrieden nickte er. »Meistens bemerkt man die synästhetischen Reaktionen kaum, es sei denn man achtet besonders darauf. Außerdem sind sie einzigartig, das heißt jeder hat eine andere synästhetische Reaktion.«
    Das Mädchen mit den kurzen Haaren meldete sich. »Wie reagiert Ihr?«
    Nicodemus warf einen raschen Blick zum Fenster. »In der Nähe von verborgenen Zaubern steigt mir die Hitze in die Wangen, so als würde ich rot werden. Aber die meisten Schüler brauchen Jahre, um ihre synästhetischen Reaktionen auszumachen. Also, macht euch keine Gedanken, wenn ihr …«
    Mitten im Satz hielt er inne. Wärme breitete sich über sein ganzes Gesicht aus, wahrscheinlich weil er gerade von seiner Synästhesie gesprochen hatte. Der Gedanke an die getarnten Wächter ließ sein Herz immer schneller schlagen. Er sah sich nach der Tür um und fuhr zusammen, als er dort einen schwarzgekleideten Mann stehen sah. Der Neuankömmling grüßte Nicodemus mit einem Nicken. »Ich bin hier, um die Schüler nach dem Unterricht zu ihren Türmen zurückzubringen.«
    »Oh«, sagte Nicodemus verlegen, als er in dem Mann einen der Präzeptoren der Neophyten erkannte. »Natürlich können wir hier auch Schluss machen.«
    Allmählich wich die Röte aus seinen Wangen, und auch sein Herzschlag beruhigte sich wieder. Er wandte sich zur Klasse um. »Herzlichen Glückwunsch, ihr habt meine erste Stunde überlebt. Nun stellt euch bitte in einer Reihe auf und folgt eurem Präzeptor. Derrick, ich würde gern noch einmal kurz mit dir sprechen.«
     
    Nicodemus rieb sich die Augen; nun, da die Anspannung wegen des Unterrichts von ihm abfiel, spürte er wieder die bleierne Erschöpfung. Er fragte sich, wer seiner Stunde wohl beigewohnt, und was für einen Eindruck er hinterlassen haben mochte.
    »Bekomme ich Ärger?«, fragte eine verdrossene Stimme.
    Nicodemus schaute auf. Das Klassenzimmer war jetzt leer, nur Derrick stand mit verschränkten Armen vor ihm und starrte auf den Boden.
    »Ganz und gar nicht.« Nicodemus setzte sich und zog Papier und Feder aus einem der Schülertische hervor. Auf die eine Seite des Blattes schrieb er »Eber« und auf die andere »Erbe«.
    »Setz dich doch, Derrick, und lies mir das einmal vor.« Er hielt ihm das Blatt hin.
    Derrick gehorchte, ohne ihn jedoch anzusehen. »Eber«, sagte er schließlich, nachdem er einen Blick darauf geworfen hatte.
    Nicodemus drehte das Blatt um. »Und das?«
    »Eber«, wiederholte Derrick.
    Nicodemus reichte dem Jungen ein leeres Blatt Papier und die Feder. »Jetzt schreib du das Wort ›Erbe‹ auf.« Derrick kritzelte »Eber«.
    Nicodemus atmete langsam aus. »Derrick, unterbrich mich, wenn ich falsch liege, aber du bist nicht besonders gut in der Schule, obwohl du alles verstehst.«
    Das Gesicht des Jungen verdüsterte sich, doch er schwieg.
    In sanfterem Ton fuhr Nicodemus fort: »Du bist ein kluger Kopf. Es war nicht so einfach, als Lehrer mit dir mitzuhalten, und es tut mir leid, wenn ich etwas hart mit dir verfahren bin.«
    »Ihr wart nicht …«, setzte der Junge an.
    »Ich vermute, dass du deinen Witz und dein Können einsetzt, um den Unterricht zu stören, um die anderen nicht merken zu lassen,dass mit dir etwas nicht stimmt. Ich sage das, weil ich selbst einmal in einer ähnlichen Situation gewesen bin. Weißt du, was ich meine?«
    Die Züge des Jungen entspannten sich. Er blickte auf. »Nein.«
    Nicodemus

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