Nicodemus
hielt das Blatt in die Höhe. »Hier steht ›Erbe‹«. Er wendete es. »Und hier steht ›Eber‹. Ich kann beide nur deshalb so leicht auseinanderhalten, weil ich die Seite mit dem Eber mit einem Punkt markiert habe. Wenn jemand anderes die Wörter aufgeschrieben und mich gebeten hätte, sie vorzulesen, so wie ich es mit dir getan habe, hätte ich den Unterschied nur mit äußerster Konzentration ausmachen können. Ich habe mich mein ganzes Leben lang darum bemüht, anders zu sein, und es ist mir nicht geglückt. Immer noch verlese und verschreibe ich mich. Verstehst du jetzt, was ich meine?«
»Ein bisschen.«
»Gut. Hör zu: Mit dir stimmt etwas nicht, genau wie mit mir etwas nicht stimmt. Die eine Hälfte der Menschheit wird dir sagen, du seist nutzlos und dumm; die andere wird behaupten, mit dir sei alles in Ordnung. Ein paar deuten deine Schreibschwäche vielleicht sogar als Gabe.«
Nicodemus zögerte, überlegte kurz, wie all die Zuhörer im Raum seine Worte wohl aufnehmen würden. »In Wirklichkeit bist du weder gestört noch begabt; du entscheidest, was du sein willst. In dieser Hinsicht ergeht es uns wie allen anderen Schülern auch. Und bis du das nicht begriffen hast, kannst du den Klassenclown so lange spielen wie du willst.«
»Ich … ich verstehe das nicht, Magister.«
»Nenn mich nicht Magister. Ich bin kein Zauberer – vielleicht wird man mich auch nie einen werden lassen. Und es macht gar nichts, dass du es nicht verstehst. Ich habe es ja selbst erst jetzt verstanden, da ich es in Worte fassen musste. In deinem Alter hätte ich es wohl auch nicht begriffen, und es hätte mich auch nicht gekümmert. Aber hast du behalten, was ich gesagt habe?«
Der Junge nickte.
»Dann wiederhole es.«
Und Wort für Wort wiederholte er, was Nicodemus gesagt hatte.
»Dass du meine Worte so präzise wiedergeben kannst, bedeutet, dass du Talent hast, wie übrigens einige von uns. Versprich mir jedenfalls, dass du immer an meine Worte denken wirst.«
Derrick versprach es, und Nicodemus unterdrückte ein Gähnen. Im Stillen dankte er Shannon dafür, dass er ihm vor dem Mittag ein Nickerchen verordnet hatte.
»Darf ich jetzt gehen?«, fragte der Junge niedergeschlagen.
Nicodemus nickte »Ja, ja. Bestimmt holst du deine Klassenkameraden noch ein. Unser Gespräch brauchst du gar nicht zu erwähnen. Sollte dich der Präzeptor fragen, sag ihm einfach, ich hätte dich für deine Respektlosigkeit gescholten.« Er lächelte dem Jungen zu.
Wortlos sprang Derrick von seinem Sitz auf und sauste davon.
Wieder musste Nicodemus gähnen, und einen Moment lang stützte er erschöpft seinen Kopf in die Hände. Gerade wollte er sich erheben, als ihn ein Geräusch zur Tür sehen ließ.
Nicodemus erwartete erneute Anzeichen für die Anwesenheit der getarnten Wächter, doch stattdessen war es Derrick, der noch immer auf der Schwelle stand.
»Was ist los?«, fragte er.
»Gar nichts«, sagte der Junge, und zum ersten Mal sah er Nicodemus in die Augen. »Wollte nur sagen … danke, Magister.«
Kapitel 14
Als Deidre wieder zu sich kam, lag sie weinend auf dem Fußboden.
Neben ihr kniete Kyran, fuhr ihr mit den Händen durchs Haar und beteuerte ihr, dass alles in Ordnung käme.
Über ihm erstreckte sich eine blanke Steindecke. Sie waren also wieder zurück in ihrem Quartier in Starhaven.
Langsam versiegten ihre Tränen. »Was ist passiert?«, fragte sie. Ihr tat der Magen weh, Mund und Kehle brannten.
»Wir haben dem Jungen nachspioniert, verborgen unter einem Tarntext waren wir in seinem Unterricht, als ein weiterer getarnter Zauberschreiber, höchstwahrscheinlich Amadi Okeke, hinzukam«, knurrte Kyran.
»Dann hast du einen Anfall bekommen, und ich habe dich hierher getragen.«
Sie setzte sich auf. »Hat die Wächterin uns entdeckt?«
Er schüttelte den Kopf.
»Und haben die Druiden einen Verdacht?«
Wieder schüttelte er den Kopf.
»Bridget und Boann, beiden sei Dank«, murmelte sie und wischte sich über den Mund. Durchweichte Brotstückchen blieben ihr an der Hand kleben.
Fragend sah sie ihren Protektor an.
»Erbrochenes. Du hast dich während des Anfalls übergeben. Etwas davon ist dir in die Lungen geraten. Ich hatte etwas parat, sie frei zu machen. Aber wenn deine Anfälle schlimmer werden, kann ich für deine Sicherheit nicht mehr garantieren.
»So ist die göttliche Krankheit«, sagte Deidre und sah auf die Sauerei. »Es ist der Wille der Göttin.«
Er rümpfte die Nase. »Ist es etwa der Wille der
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