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Nicodemus

Nicodemus

Titel: Nicodemus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blake Charlton
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erreichte, saß Hakeem an einem Schreibtisch und las. Mit seinem gelbbraunen Teint, silbernen Haar und langen Bart hatte er die Gestalt eines schmächtigen Mannes. Alltäglicher hätte der Anblick nicht sein können, und doch kam ich bewaffnet mit Angriffszaubern und verschmiert von meinem eigenen Blut in seinen Tempel gestolpert. Ohne aufzuschauen hob Hakeem die Hand und sagte ›Augenblick noch, mein Sohn, ich habe das Kapitel gleich durch‹.«
    Nicodemus riss die Augen auf. »Und dann?«
    »Dann hat er natürlich sein Kapitel zu Ende gelesen.« Shannon lachte. »Ich habe mich ihm zu Füßen geworfen und um Gnade gefleht. Ich habe ihm gesagt, dass ich für meine Familie alles tun würde – keine Aufgabe, keine Arbeit wäre mir zu schwer, mein Leben würde ich für sie hingeben … und Hakeem hatte tatsächlich eine Aufgabe für mich.«
    Der Zauberer lächelte grimmig und seine Lippen wurden zu einem schmalen Strich. »Einer von Hakeems Feinden war mit einem heimtückischen Gotteszauber in seinen Schrein, den physischen Sitz seiner Seele, gedrungen. Alle Versuche, den Fluch unschädlich zu machen, waren gescheitert. Und da man die Falle also nicht unschädlich machen konnte, musste man sie zuschnappen lassen.«
    »Hakeem hat Euch also gezwungen, diesen Fluch auf Euch zu nehmen?«
    »Mich gezwungen? Ich habe es mit Freuden getan. Der Fluch war dazu bestimmt, einen Gott und nicht einen Menschen zu töten. Es bestand immerhin die Möglichkeit, dass er mir gar nichts anhaben oder aber mich auf der Stelle auslöschen würde. Mir war das gleich. Ohne meine Frau und meinen Sohn wollte ich nicht leben.«
    »Und dieser Fluch war in Primus geschrieben? Wisst Ihr daher, dass die Sprache existiert?«
    »Der göttliche Fluch hat den Geist seines Opfers zunächst mit Wissen angefüllt, um ihm dann mit diesem Wissen zu schaden.Hakeem hat mir davor deutlich zu verstehen gegeben, dass er, sollte ich überleben, alle meine Erinnerungen an den Text löschen würde.«
    Shannon kniff seine weißen Augen zusammen. »Ich erinnere mich noch daran, wie ich in einen kleinen, dunklen Raum gegangen bin. An Hakeems Schrein – einem kristallinen Obelisken, der mit fließenden Runen überzogen war. Dann verschwamm alles vor meinen Augen; ich bewegte mich mit gewaltiger Geschwindigkeit und stand gleichzeitig still. Zwei Sätze erschienen, die sich wie paarende Schlangen umeinanderwanden. Die Runen explodierten und ein Schmerz durchbohrte meine Augen. Danach war nichts mehr. Keine Bilder, keine Visionen, nur noch … Blindheit.«
    Nicodemus hielt den Atem an.
    Shannon seufzte. »In einem Planwagen Richtung Besh-Lo bin ich erwacht. Hakeem hatte dafür gesorgt, dass jeder Zauberer fürchterliche Angst davor hatte, meiner Frau und meinem Sohn etwas anzutun. Sogar die Händler, die für unseren Orden arbeiteten, waren von ihm gezwungen worden, meiner Frau in einem ihrer Häuser eine gute Stellung anzubieten. Mich hatte er jedoch nicht unter seinen Schutz gestellt, womöglich hatte er sich durch mein Eindringen in seinen Tempel geärgert gefühlt. Hakeem hatte auch zugelassen, dass der Provost meine Forschungsergebnisse beschlagnahmte und mich nach Starhaven ins Exil schickte.«
    Um sein Mitgefühl zu bekunden, wartete Nicodemus einen Moment ab, bevor er Shannon drängte, weiterzuerzählen. »Aber der göttliche Fluch, Magister, hat er Euch Primus gelehrt?«
    »Das hat er, aber Hakeem hat meine Erinnerung daran gelöscht, bis auf das Bild mit den beiden Sätzen. Bis jetzt habe ich noch keiner Seele, Mensch oder Text, davon erzählt. Ich habe immer viel zuviel Angst davor gehabt, was Hakeem wohl anstellen würde, um auch diese Erinnerung zu tilgen.«
    Nicodemus spürte, wie sein Herz pochte. »Also ist es wahr: Primus gibt es wirklich. Dann gibt es vielleicht auch eine Verbindung zwischen mir und Primus. Das muss der Grund sein, warum das Ungeheuer mich verfolgt. Magister, versteht Ihr denn nicht, dass ich eigentlich gar kein Kakograph bin?«
    Warnend hob Shannon die Hand. »Nicodemus, du ziehst voreilige Schlüsse. Das Wesen hat gesagt, es bräuchte dich, um den Smaragd aufzuladen. Mit Primus hat es dich nicht in Verbindung gebracht. Begreif doch, kein Mensch kann Primus verstehen.«
    »Aber woher wollt Ihr das wissen?«
    »Weil Primus nur aus vier Runen besteht«, sagte Shannon.
     
    Eine Böe peitschte über die Brücke. Nicodemus’ langes schwarzes Haar flatterte im Wind, und Azure wurde von Shannons Schulter gerissen. Der arme Vogel hatte alle

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