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Nicodemus

Nicodemus

Titel: Nicodemus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blake Charlton
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Mühe, sich über der Brücke zu halten.
    »Vier Runen!«, sagte Nicodemus und kämpfte damit, sein Haar zu bändigen. »Die Sprache, von der alle anderen abstammen, besteht nur aus vier Runen?«
    Shannon streckte dem Vogel seinen Arm als Zuflucht entgegen. »Seltsame, doch einfache geometrische Runen. Zwei mit strahlenförmigen Strichen versehene Sechsecke und zwei Fünfecke, die ihrerseits mit ähnlichen geformten Sechsecken verbunden waren.«
    »Aber Magister, das kann nicht angehen.«
    »Ich weiß, es ist schwer zu glauben«, sagte Shannon, während Azure auf seinem Arm landete. »Die einfachste Sprache besteht ja schon aus zweiundzwanzig Runen. Und die komplexeste, die Hochsprache der Schamanen, besitzt über sechzigtausend Runen.«
    Als der Wind abflaute, stopfte Nicodemus sich sein wildes Haar in den Kragen. »Eine Sprache mit nur vier Runen könnte bloß vier Einrunenworte haben, sechszehn Zweirunenworte, vierundsechzig Dreirunenworte, und so weiter.«
    »Genau«, sagte Shannon und half Azure, zurück auf seine Schulter zu klettern. »Worte in Primus müssen von daher sehr lang sein. Stell dir nur einmal vor, dass eine einfache Sprache hunderttausend Worte hat, Numinus hat sogar dreimal so viele. Wenn man davon ausgeht, dass Primus einen Wortschatz von mindestens dreitausend Wörtern hat, dann müssten diese Worte bis …« Er hielt inne und rechnete. »Neun Runen lang sein, um diese Wortmenge zu schaffen. Hätte es hingegen zwanzig Runen, dann bräuchten die Worte nur …« Wieder legte er eine Gedankenpause ein. »Fünf Runen lang sein.«
    Nicodemus schloss die Augen und versuchte zu entschlüsseln, welchen Rechengang sein Lehrer wohl gewählt hatte.
    Shannon seufzte ernst. »Und bei vier Runen sind die langen Wörter kaum auseinanderzuhalten. Versuch mal, dir tausend neunstellige Zahlen zu merken, die nur aus den Ziffern eins bis vier bestehen. Unmöglich. Und die Sätze wären dann Hunderte, vielleicht sogar Tausende von Runen lang. Ein völliges Kauderwelsch.«
    Nicodemus hörte mit der Rechnerei auf und lachte. »Stellt Euch nur einmal die Rechtschreibung in dieser Sprache vor. Jeder wäre ein Kakograph.«
    Gerade wollte Shannon etwas erwidern, doch dann stockte er. Er legte die Stirn in Falten, öffnete den Mund, schloss ihn, öffnete ihn wieder. »Nicodemus … das ist ein tiefsinniger Gedanken.«
    »Ach, ja?«
    Eine Brise erhob sich, diesmal kam sie aus Starhaven und brachte die herbstlichen Gerüche von modrigen Blättern und Holzfeuern mit sich.
    Shannon nickte. »Was, wenn Kakographie schlicht und ergreifend ein Ungleichgewicht zwischen Geist und Sprache ist? In unseren Sprachen wird Bedeutung auf eine Weise vermittelt, die deinem Geist Mühe macht, sie einheitlich hervorzubringen. Aber deine Strukturen sind keinesfalls unlogisch. Nachdem ich deine Texte bearbeitet habe, funktionieren sie tadellos.«
    Nicodemus nickte, vor Verlegenheit hatte er ganz heiße Ohren bekommen.
    »Aber könnten wir eine Sprache schaffen, die dein Geist mühelos verarbeiten kann? In diesem Fall müsste auch das Gegenteil wahr sein: Wir sollten auch in der Lage sein, eine Sprache zu schaffen, die so kompliziert ist, dass nicht einmal der klügste Kopf sie konsequent schreiben könnte.«
    »Oh«, sagte Nicodemus, als ihm die Bedeutung von Shannons Worten aufging. »Und womöglich hat der Schöpfer genau das gemacht, als er Primus geschaffen hat. Vielleicht ist diese Sprache so komplex, dass jeder Mensch, der versucht, sie zu lesen oder schreiben, zum Kakographen wird.«
    »Schlimmer noch, völlig inkompetent.«
    Vor Aufregung zitterten Nicodemus’ Hände. »Magister, es könnte da eine Verbindung geben, zwischen Primus und meiner Kakographie. Vielleicht hat die Druidin recht. Vielleicht hat das Ungeheuer einen Teil meiner Fähigkeiten geraubt und sie in den Smaragd getan. Vielleicht bin ich gar kein Kakograph!«
    Statt einer Antwort lief Shannon aufs Ende der Spindle-Brücke zu. Unheilvoll tauchten die Felswände mit den chthonischen Reliefs vor ihnen auf – die Efeublätter links, die geometrischen Muster rechts.
    »Mein Junge, womöglich erleben wir gerade die ersten Tage der Prophezeiung. Der Drachenangriff auf Trillinon heute Morgen könnte der Beginn eines Konflikts sein, der alle Königreiche verschlingt und die menschliche Sprache an sich bedroht. Aber was mir gerade am meisten Sorge bereitet, ist der veränderte Ton in deiner Stimme.«
    Shannon blieb stehen und drehte sich zu Nicodemus um. »Glaubst du wirklich,

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