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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
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finden. Auf der Karte sieht es da ziemlich ländlich aus.«
    Jesse gab sich alle Mühe, sein inneres Triumphgeheul nicht nach außen dringen zu lassen. Er lächelte mild und verständig. Fast unmerklich beendete er sein trotziges Langeweilefläzen und setzte sich aufrecht hin, ein verlässlicher, erfahrener, auf alle Eventualitäten vorbereiteter Beifahrer.
    »Wir können Niels anrufen. Sein Vater hilft uns mit dem Weg, ist doch wohl klar.«
    »Klar ist bloß«, sagte ich, »dass du mir helfen wirst.«
    Und ich sagte, ich hätte zwar gern den Bahnhof von Mons gesehen, könnte das aber genauso noch in acht Tagen machen, auf der Rückfahrt.
    Jesses Zahnärztin war auch die seiner Mutter gewesen, und ich hatte Ira des Öfteren zu Dr. Fuerstner begleitet. Vor einigen Monaten war ich ihr am Neuen Pferdemarkt in die Arme gelaufen. Birgit Fuerstner war nicht nur Zahnärztin, sondern kaufte auch Kunst, um sie in ihrer Praxis auszustellen. Ein paar Mal gingen wir etwas trinken und sprachen über Kafka, dessen Zeichnungen sie begeisterten. So wie mich, fahl und sarkastisch, stelle sie sich den Jäger Gracchus vor, sagte sie. Wir kamen überein, dass ich ihr zwei von Kafkas Zeichnungen großformatig nachzeichnete und variierte, wenn sie mir dafür die Adresse eines Arztes in Südengland beschaffte, der mit Vornamen Mati hieß. Biggy Fuerstner – der Name auf dem Klingelschild erinnerte mich an das Fräulein Bürstner aus dem Prozess , und genau wie K. seine Nachbarin übers ganze Gesicht küsst, ehe er die Lippen lange auf ihrer Gurgel liegen lässt, machte ich mich in dem dunklen Treppenhaus in der Isestraße wie ein durstiges Tier über das endlich gefundene Quellwasser her.
    Meine Freundin aber war Dr. Fuerstner nicht geworden. Unser Verhältnis blieb auf eine Nacht beschränkt. Laut Ärzteregister praktiziere kein Arzt mit Vornamen Mati in Südengland, schrieb sie mir in einer SMS . Ich hatte Kafkas Sichelreiter und den am Schreibtisch Verzweifelnden für sie nachgezeichnet und ihr die Bilder in die Praxis gebracht. Und das war alles gewesen. Vielleicht würde ich Jesse von meinen Freundinnen erzählen, wenn er zwanzig war. Dann war ich über fünfzig, und was ich zu erzählen hatte, würde ihn, zu Recht, kaum noch interessieren.
    Kurz vor Ville-sur-Haine seufzte er, das sei doch alles Unsinn, ich solle hier rausfahren. Wie viel Zeit würden wir schon verlieren.
    »Wie du meinst. Wer hat dir eigentlich gesagt, dass deine Zahnärztin und ich was miteinander hätten?«
    Mit gekonntem Kopfzucken warf er die Haare zurück: »Man hat so seine Informanten. He, Marky Mark! Ich will jetzt deinen Bahnhof sehen!«

9
    I ch erkannte den Bahnhof von Mons nicht wieder, hatte ihn allerdings von außen auch noch nie gesehen. Er war ein grauer, strenger Klotz mit einer riesigen drohenden Uhr überm Portal und zwei Anbauten, die zwar etwas niedriger, aber genauso schmucklos quaderförmig waren. Versuche, so einen Klotz zu zeichnen, sagte ich mir, und du bist verloren, entweder so wie eine Wildgans, der auf dem Flug nach Süden ihr Keilgeschwader abhandengekommen ist, oder so wie der Chinese, der in seine Zeichnung von einem Schneehang hineinsteigt, wo schön gestrichelt Wildgänse über ihn hinwegfliegen. Ein paar Minuten lang suchte ich auf dem Vorplatz nach einer Parklücke. Als wir ausstiegen, bat ich Jesse, mir zu helfen, eine Wolldecke über unseren Krempel auf der Ladefläche zu ziehen. Und kaum war das erledigt, griff ich in meine Sporttasche, zog den weißen Seidenschal heraus und stopfte ihn mir in die Jackentasche.
    Durch die in den Feierabend strömende Menge bahnten wir uns einen Weg zum Eingang. Jesse blieb vor einer Gedenkplakette stehen und übersetzte sie mir, eine Demonstration seiner Französischkenntnisse. Die Tafel erinnerte daran, dass das alte Bahnhofsgebäude 1944 von Bombern der US Air Force zerstört worden war, deren Besatzungen annahmen, schon über dem Rheinland zu sein.
    »Friendly fire«, sagte er und ging durch das Portal voraus in die Schalterhalle.
    Kalt war es darin. Das Raunen und die Schritte der Leute hallten durch den zugigen Raum. Ich stellte mir vor, frühmorgens hier anzukommen, wenn alles leer war und so grau und verschlossen, wie man sich nach einer durchwachten Nacht auch selber fühlte. Jesse zeigte mir voller Eifer den Weg zu den Bahnsteigen. Es gab sechs oder acht. Ob ich mich an irgendetwas erinnern könne, wollte er wissen, und ich schüttelte den Kopf, blickte desillusioniert auf Kioske

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