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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
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und Imbissstände und folgte ihm dann zur Rolltreppe, die zu den mittleren Gleisen hinaufführte.
    Aber auch dort erkannte ich nichts wieder. Zement, Asphalt und Schotter. Von Backsteinen geplatzter Verputz. Die Schienenstränge, die Stützpfeiler. Das letzte Projekt meines Vaters, bevor er in den Ruhestand ging, war der Umbau des Bielefelder Bahnhofs gewesen. Ob in Mons oder Bielefeld, alles sah aus wie auf dutzenden Bahnhöfen, durch die ich hindurchgerattert oder wo ich mal ausgestiegen war. Es gab keine Einzelheit, an die ich mich erinnerte, und deshalb nichts, wonach ich suchen konnte. Bloß das weiße Lederkostüm sah ich vor mir, leuchtend im Halbdunkel auf einem Bahnsteig im Morgengrauen vor dreißig Jahren.
    »Komm, ich hab alles gesehen«, sagte ich und fuhr mir dabei durchs Haar, weil es mit einem Mal nass war, so als würde es im Innern des Bahnhofs nieseln. »Lass uns los. Wir gehen beide zur Toilette und kaufen dann noch was für unterwegs, einverstanden?«
    Ob ich mir sicher sei, dass es hier war, fragte er und machte sichtlich gut gelaunt ein Wortspiel mit Mons und Monstern.
    Ich nickte stumm, zündete mir trotz oder wegen des Rauchverbots eine Zigarette an und war schon auf dem Rückweg zur Rolltreppe, als ich sah, dass ein Zug einfuhr. Gleich würde es auf dem Bahnsteig voll werden, und die Vorstellung, mich durch eine Menschenmenge schieben zu müssen, verursachte mir ein flaues Gefühl im Magen. Ich zog den Schal aus der Tasche, er war noch immer so weiß und weich wie damals im Zug. Als ich einen Abfalleimer sah, warf ich ihn hinein. Ich fing an zu laufen, lief mit meinem silbernen feuchten Haar am Spiegel eines Fotoautomaten vorbei, rief dabei nach Jesse und war erstaunt, als er an mir vorbeispurtete.
    »Opa hat mal was Schönes gesagt«, meinte er, als wir hinunterfuhren. »Er meinte, dass man vielleicht alle Uhren auf der Welt gleichzeitig zurückdrehen kann, dass aber die Zeit doch immer weiterläuft.«
    »Ja«, sagte ich, »stimmt«, und sah in seinem Gesicht, dass er wusste, dass ich wusste, dass seine Mutter das gesagt hatte. Ich konnte Iras Ausspruch trotzdem nicht auf mich beziehen. Ich war kein Nostalgiker. Ich war geradezu versessen darauf, mitzuerleben, wie die Zeit verging und wie die Welt und ich älter wurden.
    »Dein Opa ist ein kluger Mann. Er hat viel durchgemacht, weißt du, aber er hat nie aufgesteckt«, sagte ich.
    Das wisse er, denn Opa erzähle ihm ja viel, sehr viel sogar, sagte Jesse. Dabei lächelte er in sich hinein, und ich wusste zwar nicht, wieso, doch ich hatte in diesem Moment das deutliche Gefühl, seine Gedanken lesen zu können. Es war das erste Mal. Ohne ein Wort von ihm wusste ich, dass er an die Mardergeschichte dachte, eine Geschichte, die mein Vater hütete wie einen Schatz.
    Irgendwie war ich Jesse dankbar. Seine kleine Lüge von den Uhren ließ mich für ein paar Momente wieder so alt sein, wie er selber war. Und mit einem Lächeln konnte ich es dann sogar verschmerzen, durch die Schalterhalle zu gehen und mir dabei vorzustellen, dass damals auf ihren Korkschuhen auch die Belgierin hier gegangen war und seither nie wieder an mich gedacht hatte.

10
    B ei Saint-Aybert fuhren wir auf der E19 über die Grenze und nach Frankreich hinein. Es war ein strahlend schöner Spätnachmittag. Auf den Bäumen in der Ferne glitzerte silbernes Licht, und ich sah mehrere große Vogelschwärme über den Feldern in der Gegend um Valenciennes. Zuerst nahm ich an, es wären Krähen oder Dohlen. Wenig später hielt ich an einer Raststätte und hörte, während der Diesel in den Tank floss, lautes an- und abschwellendes Singen und Schimpfen in einer Reihe alter Sommereichen, die die Autobahn säumten und deren Wipfel leicht im Wind schwankten. Darin saßen tausende Stare.
    Wir kamen an Cambrai vorbei und in die Picardie, wo wir über die E15 ein Stück nach Süden fuhren. Jesse meinte, ich solle doch mal Speed geben, und weil auf der frühabendlichen Autobahn nicht viel Verkehr war, zeigte ich ihm, was in dem alten 300  TE steckte. Bei Feuillères rauschten wir mit 190 Sachen über die Somme. Jesse kurbelte das Schiebedach auf und streckte eine Hand hinaus in die beginnende Dämmerung. Der Fahrtwind war so stark, dass er sie mit der anderen stützen musste.
    »Siehst du den Fluss?«, schrie ich und zeigte auf die grünen Kurven, in denen sich die Somme vorbei an Äckern, Wäldchen und Weilern durch das Hügelland schlängelte.
    »Sein Name heißt übersetzt Nickerchen«, rief

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