Nie mehr Nacht (German Edition)
er, »und genau so sieht er auch aus!«
Kurz hinter Deniécourt bogen wir nach Westen auf die E44 Richtung Amiens. Nach kurzem Geplänkel einigten wir uns, Joy Division zu hören, die einzige der zwanzig CD s im Handschuhfach, die Jesse akzeptabel fand. Wir sprachen darüber, dass sich wie Kurt Cobain von Nirvana auch Ian Curtis, der Sänger von Joy Division, das Leben genommen hatte.
»Und wie?«
»Vergessen«, sagte ich. »Er hatte ein kleines Kind mit seiner Frau und eine Liebesaffäre mit einer jungen Belgierin.«
»Belgien bringt nur Unglück in die Welt«, meinte Jesse.
»Außerdem war er depressiv und Epileptiker.« Ich sah Ian Curtis vor mir, sein ruckartiges Tanzen mit rudernden Armen hinter dem Mikro. Er hatte sich an der Küchendecke erhängt, an einer Vorrichtung zum Trocknen der Babywäsche.
Stumm hörten wir eine Zeit lang auf die Musik. Doch ich merkte, wie ich unkonzentriert wurde und dass mir allmählich die Puste ausging. Einmal fielen mir die Augen zu. Der Schreck darüber und die Erleichterung, dass Jesse nichts bemerkt hatte, ließen mich für eine Viertelstunde noch mal hellwach sein.
Dann aber bat ich ihn, auf der Straßenkarte die Grenze zwischen Picardie und Normandie zu suchen, ein Flüsschen namens Bresle. Bis dahin wollte ich fahren, dann Rast machen, etwas essen und trinken und mir die Beine vertreten. Jesse nahm die Karte. Wie ein goldener Vorhang fiel ihm die blonde Mähne ins Gesicht, während er nach einem geeigneten Fleck, einer ruhigeren Landstraße in Autobahnnähe, einem Park, Wäldchen oder See in meiner und seiner Vorstellung suchte.
Amiens lag schon hinter uns, als er noch immer nichts gefunden hatte. Mittlerweile war ich wirklich ausgelaugt, verdrossen und gereizt. Es wurde dunkel, wenn auch zum Glück nur langsam. Doch ich konnte die Nacht spüren, ich sah sie in den Bäumen und wie die Vögel Reißaus vor ihr nahmen. Vor Hunger und Unlust, weiter und immer weiter fahren zu müssen, sagte ich nichts mehr, wünschte stattdessen, ich hätte mich über Jesses trotzige Einwände hinweggesetzt, wäre in Mons geblieben und hätte das weiche Licht genutzt, um mit Zeichenblock und Rapidograph durch die Altstadt zu streifen. Immer noch ging mir die Belgierin nicht aus dem Kopf, der Schal, den sie mir geschenkt hatte, das Lederkostüm, Gordy und unser nicht wiedergutzumachender Streit, und doch erschien mir alles, woran ich mich erinnerte, mit einem Mal nichtssagend und überflüssig. Es kam mir aberwitzig vor, dass ich dem Jungen fast den ganzen Weg durch Belgien hindurch davon erzählt hatte.
Als hätte er meine Gedanken gelesen, wechselte Jesse eigenmächtig die CD . Aus seinem Rucksack, meinem Geschenk, kam Nevermind von Nirvana zum Vorschein, und ich war außerstande, Einspruch zu erheben. Der Stumpfsinn hüllte mich ein. Quälend schleppten sich die Minuten dahin. Wenn ich mir klarmachte, dass mir Nirvana schon seit zwanzig Jahren auf die Nerven fiel, wusste ich nicht, was mich mehr peinigte, Kurt Cobains Krakeelen oder meine Unfähigkeit, Frieden damit zu schließen.
Mit einem Mal aber war er so weit.
»Okay, ich glaub, ich hab da was aufgetan«, sagte er und fing in seiner wundersam vollendeten Aussprache an, die Namen der Ortschaften herunterzurasseln, die an der Grenze zwischen Picardie und Normandie lagen und die für eine Rast am Straßenrand in Frage kamen.
»Der erste größere Ort heißt Aumale, er liegt direkt an der Bresle«, sagte er mit einem Finger auf der Karte und ohne mich anzusehen. »In der Nähe gibt’s nur wenige Dörfer, Coppegueule, Morienne und Rivery zum Beispiel. Richtung Norden, bloß ein paar Kilometer entfernt, wird’s interessant, weil: Zwischen Rivery und Marescot liegt ein kleiner See, Etang l’eauette heißt der, steht hier. Ich glaube, ein ›étang‹ ist ein Weiher oder Teich. Ich finde, das hört sich gut an. Klingt nach Enten und Forellen, des canards et des truites.«
Das hörte sich wirklich gut an, da musste ich ihm recht geben. Es war gut, ein Ziel zu haben und, dort angekommen, Rast zu machen. Waren wir erst in der Normandie, blieben uns noch anderthalb Stunden Fahrt bis Le Havre, dann noch eine letzte Stunde bis Bayeux. Ich sah aufs Armaturenbrett. Es ging auf halb sechs. Eine halbe Stunde Ruhepause eingerechnet, würden wir mit Glück noch vor zehn beim Hotel sein. Am Morgen könnte ich früh aufbrechen. Ich würde allein nach Souleuvre fahren, den ganzen Tag würde ich Zeit haben, um die Viaduktruine zu erkunden.
Aber
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