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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
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blutunterlaufenen Augen an.«
    »Okay, Zombie, gib Speed!«
    Aber das tat ich nicht, und so rutschten wir langsam und ohne dass wir es hätten ahnen können, hinein in einen weiteren Augenblick, in dem das Blatt sich wendet. Es war ein Moment wie aus einer anderen Zeit, vollkommen eingepasst in das Gefüge des Abends und doch auf der Stelle zu erkennen als etwas »Wunderseliges«, wie Keller vielleicht gesagt hätte. Jesses Seitenfenster war noch offen. Er lehnte sich hinaus, sah zurück zu dem Baum mit dem Unfallauto und dem blutenden Alten darunter und berichtete, ob die beiden Untoten ihr Opfer als Nächstes in Stücke rissen – was sie anscheinend auf später verschoben. Irgendwo spielte Musik, aber es war nicht auszumachen, woher sie kam.
    Im Schritttempo passierten wir den dritten Wagen, einen kleinen hellroten Lancia, dessen Scheinwerfer brannten und der am Heck lauter Aufkleber hatte. In dem Auto saßen zwei Jugendliche, junge Männer, meinte ich, war mir jedoch nicht sicher, denn beide hatten sie mindestens so lange Haare wie Jesse. Der eine vorn telefonierte, aber der andere, der hinten saß, rauchte und lachte sich kaputt. Worüber? Was fand dieser junge Bursche oder dieses Mädchen so komisch? Bloß eine Übersprunghandlung vielleicht. Noch eine nächtliche Autobahnfahrt fiel mir wieder ein. Mit ihrem alten Strich-Achter waren meine Eltern zusammen mit meiner Schwester und mir an einem schweren Unfall vorbeigekommen. Zerknäulte und zerbeulte Autos hatten kreuz und quer auf der ölverschmierten Fahrbahn gestanden, und in einem davon, einem Ford, aus dem gelbe und blaue Flammen in die Dunkelheit loderten, sahen Ira und ich vom Rücksitz aus eine Gestalt, die reglos am Steuer saß und verbrannte. Gelacht wie der Teenager in dem Lancia hatten wir nicht, und doch waren wir so etwas wie eine verschämte Belustigung nicht mehr losgeworden. Wir rückten nah zusammen, spürten den Oberschenkel des anderen und meinten, eins geworden zu sein, ein einzelner Mensch mit zwei Gesichtern, vier Händen und Augen. Fast fühlte ich eine stille Freude, nur ließ sich nicht sagen, wieso. Ich sah sie auch Ira an, sah in ihrer Miene und spürte zugleich in mir selbst, dass unsere Freude angesichts der Gespenstigkeit der Nacht uns gegen alles gleichgültig machte, was unsere Eltern an Erklärungen und Beschwichtigungen vorbrachten. Es war diese schützende Gleichgültigkeit, die ich in dem Lachen des Teenagers in dem Lancia wiedererkannte und die mich an dem fremden Gesicht rührte. Doch das war nicht das Entscheidende.
    Die Musik, die man hörte, kam aus dem Auto. Sie drang hinaus in die Nacht, nicht sehr laut und doch laut genug, um Grillen oder Zikaden und ein noch weit entferntes Martinshorn, das durch die Stille über den dunklen Feldern rasch näher kam, zu übertönen. Was wir hörten, war ein Lied, das wir beide gut kannten. Es war Iras Lieblingsstück von ihrem Lieblingsalbum, der Song, den sie in der Garage vermutlich zuletzt gehört hatte. Jesse war für zwei Wochen bei Lewandowskis untergebracht gewesen, sodass einer Postbotin erst nach einer Weile ein Zettel an der Haustür auffiel, auf dem »Rufen Sie die Feuerwehr« stand. Als die Männer das Garagentor aufbrachen und Ira fanden, lief zwar keine Musik mehr, doch in ihrem alten Alfa war die Anlage eingeschaltet, und eine CD steckte darin. Sie liebte Tusk , seit wir dreizehn oder vierzehn gewesen waren. Auf dem Album sang Stevie Nicks mit ihrer rauen, unerklärlich langsamen warmen Stimme »Sara«, und dieses traurigste Stück von Fleetwood Mac, das Ira so gern gehabt hatte, hörte man aus dem Lancia am Straßenrand zwischen Bayeux und Arromanches.

18
    V orbei an dunklen Gehöften und hell erleuchteten Ferienhäusern fuhren wir weiter bis La Rosière. Ich bog links ab auf die Straße, die nach Longues führte, und kurz darauf tauchte der erste Wegweiser Richtung Hotel auf. Acht Kilometer waren es noch bis Le Mesnil. Auf einer umketteten Grünfläche, die La Rosières Dorfmitte markierte, stand unter einer Pappelgruppe und angestrahlt von zwei Laternen ein mächtiger ockergelber Panzer. Sein Turmrohr schien nur auf uns zu zielen.
    Seit dem Unfall redete Jesse nicht mehr mit mir. Bis das bullige Stahlungetüm hinter einer Straßenbiegung verschwand, folgten seine Blicke dem Tank, der gefleckt war wie eine Platane. Während wir das menschenleere Nest hinter uns ließen und erneut zwischen dunklen Äckern und Stoppelfeldern hindurchfuhren, erklärte ich ihm, dass

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