Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
Vom Netzwerk:
Osnabrück, sein Beleidigtsein, mein Zorn, sein Versteckspielen in Aumale – wieder an einer Brücke –, meine Unnachgiebigkeit und seine Weigerung, den Film zu löschen, waren mit Sicherheit nur die Vorboten eines Streits, den wir noch auszufechten hatten.
    Noch waren wir nicht mal am Ziel. Saint-Martin-des-Entrées, Saint-Vigor-le-Grand. Immer mehr Weiler, Dörfer und Städtchen wurden eingemeindet in das imaginäre Ballungszentrum im Bessin, das Jesse aus Klängen zusammensetzte und dessen Name bald so viele Bindestriche hatte wie er Lebensjahre. Eine Woche und ein Tag in einem leerstehenden Strandhotel und auf alten Brücken. Eine Woche und ein Tag an verwunschenen Flussufern und zwischen Betontrümmern der einstigen Landungspontons von Gold Beach. Acht Tage lang herumkraxeln in Flakgeschützbunkern und Seevögelkolonien. Acht Tage lang Tischtennis im Hotelkeller mit Niels, seinen Eltern und Geschwistern. Achtmal Frühstück, Mittagessen, Abendbrot. Spaziergänge, Ausflüge, Spieleabende. Acht Nächte. Es war falsch und fahrlässig, wenn ich mit ihm nicht über Ira sprach. Es war gefährlich nicht nur für Jesse, sondern auch mich, wenn wir weiterhin das Einzige, was uns wirklich verband, unter den Teppich kehrten, weil es uns beiden das Leben schwermachte.
    Wie richtig ich damit lag, zeigte sich nur wenige Minuten später. Als ich kurz hinter Bayeux abbog Richtung Küste, kamen wir auf eine schmale, stockfinstere Landstraße, die sich Route d’Arromanches nannte. Schief und knorrig säumten den Straßenrand vom Wind gebeutelte Platanen mit fleckiger Borke. Ein paar Kilometer vor dem Weiler La Rosière, wo sich zum letzten oder vorletzten Mal der Weg gabelte, kamen wir auf der dem Meer zustrebenden Allee an einem Autounfall vorbei, der erst kurz zuvor passiert sein musste.
    Ein weißer oder ehemals weißer Kleintransporter mit offener Ladefläche war gegen einen der Bäume gedrückt worden und stand schräg auf dem Böschungsstreifen. Die Windschutzscheibe war aus dem Rahmen geplatzt und lag auf der Motorhaube, als hätte dort ein Riese eine Kontaktlinse verloren. Zwei andere Wagen, einer mit niederländischem Kennzeichen, hatten angehalten und den Warnblinker eingeschaltet. Und plötzlich, nach vier Stunden Fahrt durch ein wie menschenleeres Land, waren da auch Leute.
    »Oha!«, rief Jesse.
    Ich bremste ab und schaltete in den zweiten Gang. Der holländische Wagen war ein alter Rover und gehörte einer Familie. Kofferraum und Fahrertür standen offen, und der Fahrer war ausgestiegen. Als ich im Schritttempo vorbeifuhr, sah man auf dem Beifahrersitz eine Frau, die sich umdrehte zu drei Kindern auf der Rückbank. Alle drei Kleinen weinten.
    Als Nächstes passierten wir den verunglückten Pick-up. Es schien keine Toten zu geben. Ein älterer Mann mit ausgebeulten Hosen lehnte am Heck und presste sich etwas gegen die Stirn. Es sah aus, als liefe Blut an seinem erhobenen Arm hinab, doch war ich mir nicht sicher.
    »Der blutet ja«, sagte Jesse im nächsten Moment. »Lass uns anhalten. Soll ich nicht fragen, ob wir helfen können?«
    Aber es standen ja schon zwei Männer bei dem Alten, einer mit Verbandskasten, der andere mit einem Handy am Ohr. Jesse ließ die Scheibe nach unten. Als ich stoppte, fragte er, was er sagen solle, und sagte dann, ohne dass ich ihm geantwortet hätte, etwas auf Französisch, das ich nicht mal zur Hälfte verstand. Die beiden Helfer drehten sich um, hoben jeder eine Hand und schüttelten den Kopf. Angestrahlt von den Scheinwerfern des Rover, hinter sich die dunkelblaue Nacht und vor sich den blutenden Alten, sahen sie einigermaßen zum Fürchten aus, wie Engel, aber keine guten. Der mit dem Verbandskasten hatte einen struppigen weißen Pferdeschwanz, und der um einiges jüngere mit dem Handy telefonierte die ganze Zeit.
    »Nichts Schlimmes passiert«, sagte Jesse. »Hast du die gesehen? Die sahen echt wie Zombies aus, ganz bleich waren die im Gesicht, und ihre Augen rot wie Himbeermarmelade.«
    Ich nickte. Wie Untote, das hätte ich auch gedacht, sagte ich, und beide mussten wir lachen, keuchten aber bloß.
    Ob ich mal einen gesehen hätte, fragte Jesse und meinte es offenbar ernst.
    »Du meinst … einen Untoten?«
    Jetzt nickte er und sah mich von seiner dunklen Seite her aus zusammengekniffenen Augen an.
    Und ich sagte: »Oh ja, schon oft.«
    »Nicht in echt, oder?«
    »Doch. Jeden Morgen sehe ich einen bei mir im Badezimmer. Der wankt vor den Spiegel, und dann starrt er mich aus

Weitere Kostenlose Bücher