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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
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sagte ich, »den gibt es bestimmt noch. Fragt sich bloß, ob er immer noch arschnackt ist.«
    Er ging nicht auf mein Angebot ein. »In dem Segler von diesem Lee ist keiner gestorben«, sagte er stattdessen. »Die haben es alle ins Freie geschafft. Die Horsas waren aus Holz, wusstest du das? Dass sie bei der Landung kaputtgehen, war Absicht. Und man konnte das gesamte Heck absprengen. So konnten alle raus. Und das ist der Unterschied. Die in so einem Panzer konnten nirgends mehr hin. Nur sind sie deshalb nicht sofort gestorben. Was haben die so lange gemacht, meine ich. Die hatten ja noch Luft, die konnten atmen und sich unterhalten. Aber sie wussten, sie sterben, sie wussten, eigentlich sind wir schon tot.«
    »Schwer vorstellbar«, sagte ich mit trockener Kehle, »grauenhaft. Aber weißt du, es war Krieg. Viele haben bestimmt nicht damit gerechnet, es zu schaffen, und das hat es ihnen vielleicht leichter gemacht. Hey, und wer weiß! Hatten die auch kein Radio – einer hat vielleicht gesungen, oder wenigstens gepfiffen. Bestimmt hat McCoy Lee gepfiffen. Jemand, der von arschnackten Hügeln redet, der pfeift, wenn es eng wird.«
    Kurz vorm nächsten Dorf, vor Longues-sur-Mer, stand der erste Hotelwegweiser. Neben einem Pfeil war L’ANGLETERRE zu lesen, so als führte die schmale Chaussee geradewegs hinaus aufs Meer und hinüber nach England. Einmal nach rechts, einmal nach links und dann noch mal nach rechts bog ich ab, bis wir auf der schnurgeraden Straße nach Le Mesnil waren. Zwei Kilometer trennten uns noch vom Ziel, und schon sah man am nächtlichen Horizont einen silbergrauen Streifen Meer, über dem der Mond stand, und davor eine vielfach unterbrochene Kette aus gelben und weißen Lichtern.
    »Da!«, rief ich und knuffte ihn auf den Arm. »Guck mal. Das muss es sein.«
    Am Straßenrand wuchsen windschiefe Obstbäume und dazwischen dichte Hecken voll schwarzer, im Licht glänzender Beeren. Jesse schien keine Augen dafür zu haben. Noch war er nicht dort, wohin er wollte, noch nicht ganz. Zwar sah er die Lichter von Le Mesnil und die lange Kette der Straßenlaternen, die sich zur Küste hinunterzog, aber er schien weder die Landschaft noch das Meer oder die Mondsichel am Himmel wahrzunehmen. Ich fragte mich, was er wohl vor sich sah, und fand die Antwort in meiner eigenen Vorstellung. Er war an einem Ort, den wir beide gut kannten. Dort lief Musik von Fleetwood Mac.
    Ich schaltete das Radio aus.
    »Also du meinst, die haben vielleicht gesungen oder gepfiffen, um sich abzulenken. Um sich die Angst zu nehmen, dass sie gleich tot sein werden, oder wieso?«
    »Ich weiß es nicht, bin ja nicht dabei gewesen«, sagte ich, und dass ich so einen Tod auch niemandem wünschen würde, ob Musik dabei lief oder nicht.

19
    D as L’Angleterre lag nicht im Ort, es stand allein auf einem ansonsten unbebauten Streifen unmittelbar an der Steilküste. Nach der letzten Straßengabelung war das Gebäude zu sehen, ein großes altes Strandhotel, das fast ganz mit der Dunkelheit verschmolz, so wenig war es beleuchtet. Ein Schild wies links nach Le Mesnil, ein anderes rechts zum L’Angleterre und weiter zum Vogelschutzgebiet. Auf der Straße aus dem Ort kam uns eine Frau in Mantel und Kopftuch mit einem großen weißen Hund entgegen, dem der halbe Schwanz fehlte. Kräftige Böen fuhren in Sträucher und Hecken. Der Wind blähte den Mantel der Frau zu einem dunklen in der Dämmerung stehenden Segel auf einem Kahn mit weißem Hund.
    Der Weg ging von Teer zu Schotter und Schotter zu Kies über. Erst kollerte es unter den Reifen, dann wurde immer mehr Knirschen daraus. Und als jenseits der vom Wind zerrupften Beerenhecken bereits die erleuchteten Fenster auftauchten und sich vorm Nachthimmel die Umrisse des Hotels abzeichneten, sagte Jesse es endlich. Sein erstes Wort fuhr mir durch alle Glieder. Im Hals, in der Brust, in den Fingern auf dem Lenkrad, in Beinen und Füßen meinte ich sein »Mama« zu spüren.
    »Mama hat dieses Lied also wahrscheinlich gehört, damit sie keine Angst mehr zu haben brauchte«, sagte er fest und sah mich erwartungsvoll an. »Es ging ihr gar nicht um eine besonders traurige Erinnerung.«
    Was darauf antworten?
    »Nein, darum ging’s ihr nicht.«
    Doch, darum ging es ihr. Um die ganze Traurigkeit und Unauflösbarkeit. Der Junge und ich, wir waren beide Teil davon, nur war Jesse zu jung, um etwas davon zu wissen, und ich – wollte nichts wissen.
    Seit elf Monaten tat ich alles, um mir Iras Ende nicht

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