Nie mehr Nacht (German Edition)
Handwaschbecken, aber kein eigenes Bad, und es lag ganz am Flurende, kurz vor der Tür zur Nottreppe. Vielleicht war es früher als Dienstmädchenzimmer oder Abstellkammer genutzt worden. Ich räumte meine Sachen in den Schrank und packte Zeichenblöcke, Stifte, McCoy Lees Buch und die Straßenkarte in den Rucksack, dann ging ich duschen.
Im Korridor war das Möwengeschrei kaum mehr zu hören, und aus dem Zimmer der Jungs kam kein Mucks. Obwohl ihm Maybritt Juhl ein eigenes zurechtgemacht hatte, das neben meinem lag, war Jesse erwartungsgemäß zu Niels gezogen. Ich war mir sicher, dass die beiden kein Auge zugemacht und die ganze Nacht geredet hatten. Wahrscheinlich waren sie erst eingeschlafen, als mir schon längst die Möwen durch den Kopf schwirrten.
Überall in dem alten Hotel hingen gerahmte Bilder an den Wänden. Gleich in der Lobby waren sie mir aufgefallen, lauter Bilder, die nicht zusammenpassten, weder in dem, was sie darstellten, noch in ihrer Größe oder Machart. Das Einzige, was sie verband, war der Flur, war das Haus, in dem sie kreuz und quer überall hingen, und ihre Verschiedenartigkeit. Auf dem Weg zum Bad gab es keinen Rahmen doppelt. Eine größere Radierung hing neben einer Postkarte hinter Glas, eine naive Tuschzeichnung folgte auf einen abstrakten Druck, ein Zeitungsausriss von einem Speedwayfahrer vergilbte nicht weit von einem großformatigen Ölbild, das einen Reiter in Uniform auf einem Glanzrappen zeigte. Immer wieder blieb ich vor dem Sammelsurium stehen und kam mir wie in einem Museum der Beliebigkeit vor. Es war zum Lachen und zugleich bewegend. Ich konnte mich gar nicht sattsehen an den verschiedenen Farben, Formen, winzigen und übergroßen Formaten. So spartanisch mein Zimmer war, so lebendig, bunt und wirr wimmelte es an den Korridortapeten.
Mit Handtuch und Kulturtasche unterm Arm schritt ich vorbei an Landschaften, die ich nie gesehen hatte, an Gesichtern, die mir erträumt vorkamen, Ahnenporträts, Hundeköpfen, Vogelschwingen, Schmetterlingen, Blumen und Bäumen. Kein Bild war schön und keins hässlich. Jedes war zugleich besonders und austauschbar, aber gerade das gefiel mir an dem Flur und dem Treppenaufgang, wo sich die Galerie fortsetzte, damit sie nahtlos in den anderen Stockwerken weitergehen konnte.
Eine alte Schwarzweißfotografie zeigte ein Zwillingspaar. Zwei Schwestern mit kräftigen Oberarmen saßen auf Stühlen an einem Fenster, vor dem es dunkel war. Sie waren noch keine zwanzig. Beide trugen sie das gleiche ärmellose Sommerkleid, hielten die Hände im Schoß verschränkt und blickten lächelnd, die eine heiter, die andere höflich, in die Kamera.
Das Foto hing fast an der Treppe. Durch das große Seitenfenster fiel milchig weißes Morgenlicht auf die beiden Gesichter, und während ich dicht an das Bild heranging und mich fragte, wen es darstellte und wer es aufgehängt hatte, hörte ich Maybritt Juhl und ihre kleine Tochter, die sich unten in der Küche unterhielten und Frühstück machten. Ich bin gerettet, dachte ich unter der Dusche. Als ich das Wasser immer kälter drehte, konnte ich mir sogar vorstellen, im Hotel zu bleiben und im Meer schwimmen zu gehen, anstatt loszufahren, um mir die erste Brücke anzusehen.
Maybritt Juhl war ein paar Jahre älter als ich, auch etwas größer. Sie war schlank und sportlich, lachte viel und verhielt sich in meiner Gegenwart von Anfang an völlig ungezwungen, ganz so, als würden wir uns lange kennen. Wie ihr Mann kam sie von einer kleinen dänischen Insel im Kattegat, von der ich nie gehört hatte. Eine Vogelinsel.
Und eine Insel für Beobachter. Alle wussten dort von jedem alles. Sie erzählte belustigt und mit leichtem Akzent, dass sie Ove schon immer kannte. Solange sie denken konnte, gab es ihn.
Seit zwanzig Jahren lebten sie in Hamburg. Aber sie waren viel unterwegs gewesen. Zwischen Ostsee und Nordsee fuhren sie von einem Schutzgebiet zum nächsten, und seit man mit der Kleinen alles machen konnte, tingelten sie in den Herbst- und Winterferien durch leerstehende Hotels. Sie hatten immer Glück gehabt.
Maybritt setzte sich zu ihrer Tochter an den fertig gedeckten Tisch. »Dabei sind mir Vögel piepegal! Nimm dir bitte einen Stuhl.«
Im L’Angleterre hatten sie schon im letzten Herbst eingehütet, und seither war niemand hier gewesen. Die eingeworfenen Fenster mussten ausgebessert werden. Im dritten Stock gab es Zimmer, die nicht mehr zu betreten waren – inzwischen nisteten darin Möwen. Irgendwo
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