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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
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Möwenschwarm, die Dächer von Le Mesnil mit den verrosteten Antennen und bald ebenso verrosteten Satellitenschüsseln. Mit einem Mal hatte ich unbändige Lust, Wolken zu zeichnen, Wolken, wie man sie auf Sisleys Bild von der Seine-Überschwemmung sah: Dort trieben sie wie unbeteiligt über die im Wasser stehenden Bäume. Es kann doch kein Zufall sein, wenn dieser Weinhändler A. S. Nicolas dieselben Initialen hat wie Alfred Sisley, dachte ich. Aus dem Zeichnen wurde nichts. Mein letzter Bleistift brach mir ab, und meinen Anspitzer hatte ich nicht mehr.
    Am 7. Juni 1944, dem Tag nach dem D-Day, notierte McCoy Lee: »Infanteristen des Essex-Regiments und der South Wales Borderers haben mit Unterstützung von Panzern der Sherwood Rangers bei nur geringfügigen Zerstörungen Bayeux befreit. Die Rangers waren die ersten Truppen in der Stadt. Zu ihrer Erleichterung fanden sie außer wenigen befestigten Stellungen und einzelnen Scharfschützen keine Deutschen vor, sodass Schäden an historischen Gebäuden vermieden werden konnten. Einwohner bereiteten ihnen spontan einen begeisterten Empfang! Viele bewarfen die Panzer mit Blumen. Woher kamen die ganzen schönen Blumen? Und die Mädchen, eins hübscher als das andere? In ihren Sommerkleidern sahen sie wie glücklich lächelnde Gespenster aus.«
    Für einen Nachmittag fuhr ich mit Niels, Catinka und ihrer Mutter zu zwei Brücken, die Kevin Brennicke in seinem Dossier beschrieb. Maybritt fuhr uns mit dem Volvo, weil mir der Daimler da schon nicht mehr gehörte. Wir fuhren nach Westen über La Cambe, wo es einen großen deutschen Soldatenfriedhof gab, folgten der N13 bis Isigny und dann der N174 vorbei an Montmartin-en-Graignes in südliche Richtung bis Saint-Lô. Ich erzählte Niels, dass die Stadt eine der am schlimmsten zerstörten in der Normandie gewesen war, praktisch kein Baum und kein Haus waren stehen geblieben, als sich die Front durch den Wald von Cerisy bis Saint-Lô und über die Stadt hinweg nach Süden gewälzt hatte.
    Und er erwiderte, das sei ja wohl auch kein Wunder! »Die Alliierten haben Saint-Lô bombardiert und zusammengeschossen, bis sie die Nazis und die Kollaborateure aus der Stadt vertrieben hatten, und dabei sind auch tausende Einwohner draufgegangen.«
    Unwiderlegbar. Dennoch, man konnte es so nicht stehen lassen. »Es war Krieg, da passieren die grausamsten Dinge«, sagte ich. »Du vergisst, wer die Eroberer waren und wer die Eroberten. Soweit ich weiß, haben Amerikaner und Briten zumindest versucht, die Leute vorzuwarnen, ehe sie angriffen. Ich glaube, die allermeisten Franzosen hätten ohne Weiteres zugestimmt, Saint-Lô zu zerstören, wenn dadurch die Deutschen vertrieben wurden.«
    »Ohne Weiteres? Na, ich weiß nicht. Vielleicht hätte ich auch zugestimmt«, maulte er zurück. »Trotzdem. Die Stadt wurde ausgeräuchert wie ein Rattennest. Ey Mann, ich hab es zig Male gespielt. Wusstest du, dass es ein US -Indianerregiment gab, das als Vorhut in die Kämpfe geschickt wurde?«
    Maybritt hielt es für besser, das Thema zu wechseln. Keinen Streit so dicht vor dem Ziel, bitte! Sie wolle sich in Ruhe die Gegend ansehen. Und es würden auch jüngere Ohren zuhören.
    »Ich höre gar nicht zu, ich lese«, sagte Catinka. Sie hatte ihr Star Wars -Buch mitgenommen und klappte es erst zu, als ihr übel wurde.
    Die Gegend um Souleuvre war waldig und hügelig. Das Gras leuchtete noch saftig grün, und überall waren weiße oder braune Flecken, Schafe, vielleicht Rehe.
    Der kleine neopazifistische Klugscheißer mit seinen virtuellen Fronterlebnissen. Als wir auf einem Brückenpfeiler der Eisenbahnviaduktruine standen, überlegte ich kurz, so zu tun, als wollte ich Niels hinunterstoßen. Aber ich ließ es bleiben, vor allem wegen Cat, die sich entweder an ihre Mutter oder mich klammerte. Der Junge zog eine Flunsch, weil das Bungee-Jumping, mit dem Maybritt ihn geködert hatte, nur am Wochenende stattfand. Ein eiserner Steg mit Geländer führte zu dem Pfeiler hinüber, und in die Betonplattform für die Springer hatte man dutzende Karabinerhaken getrieben. Wir standen viel höher, als ich gedacht hatte. Unten im Tal sah man Tiere, doch was für welche, war nicht zu erkennen.
    Auf meiner Matratze dachte ich ein paarmal auch daran, die Ruine von Souleuvre zu zeichnen, tat es aber nicht. Stattdessen bildete ich mir ein, oben, in einem leerstehenden Zimmer im dritten Stock, die umhergeisternden Vögel zu hören. Ob sie flatterten, scharrten oder plötzlich

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