Nie mehr Nacht (German Edition)
für möglich, dass ein Wunder geschehen sein könnte. Für mich stand fest, dass meine Schwester gestorben war, es stand so fest wie die Tatsache, dass ich noch lebte. Ich hatte sie im Sarg gesehen. Zwar glaubte ich an die Auferstehung von den Toten, nicht aber dass wir auf diese Welt zurückkehrten. Wiedergänger und Doppelgänger, nichts als grusliger Mumpitz, und auch der Schatten, der mir nachts in meinem Zimmer erschienen war, hatte nichts von einem Geist an sich, oder doch nur insofern, dass er mir durch den Geist gegangen war, als ich fest schlief und träumte.
Jetzt aber träumte ich nicht. Ich war zwar aufgewühlt und hatte zwei Calvados in mich hineingeschüttet, doch stand ich nicht neben mir. Auf dem Foto war Ira zu sehen, und ich wollte wissen, wann und wo das Bild gemacht worden war. Wer war die andere Frau, und wer hatte die beiden fotografiert? Im Grunde wollte ich nur eins wissen, aber das war selbst in meiner Sprache schwer in Worte zu fassen. Wie so ein unfassbarer Zufall zustande kam und was er bedeuten konnte, fragte ich mich und rätselte, wie ich das einer jungen Frau auf Französisch verständlich machen sollte.
Es war das Beste, die Kassiererin offen zu fragen, ob sie etwas über das Foto wusste, und die französischen Brocken, die mir in meiner Aufregung einfielen, reichten vielleicht, um ein paar unverfängliche Sätze zu formulieren. Als ich die CD bezahlte, entschuldigte ich mich, stellte den Rucksack auf den Kassentresen und erklärte, wo ich ihn gefunden hatte. Die Kassiererin nahm ihn mir ab und bedankte sich, sie werde sich drum kümmern.
»J’ai une question, Mademoiselle«, sagte ich lächelnd. »Cette femme là, sur le photo, c’est ma sœur. Elle est morte. Dit-moi s’il vous plaît, est-ce que vous savez qui est l’autre femme, la femme avec les cheveux blondes?«
Die junge Frau drehte sich um und betrachtete das Foto, auf das ich zeigte. Sie sah es sich lange an, fünf Sekunden lang vielleicht, für eine Kassiererin eine kleine Ewigkeit, Momente, in denen sie keine Kassiererin war, sondern eine Frau, die zwei andere Frauen am Meer vor sich sah.
»Das ist eine Kollegin«, sagte sie noch, mit dem Rücken zu mir, in einem schnellen, hellen Französisch. Dann drehte sie sich um. »Sie hat frei. Am Sonnabend ist sie wieder da, Monsieur.«
Ich dankte ihr und nahm die CD , und da sagte sie, es tue ihr leid wegen meiner Schwester. Sie lächelte sehr freundlich, und ich sah noch einmal auf das Foto, prägte mir das Gesicht der fremden Frau darauf ein und ging dann zurück zu den Kindern.
DIE WARTETAGE BIS ZUM SONNABEND verbrachte ich äußerlich ruhig, doch innerlich in einem einzigen wilden Taumel. Die Ereignisse flogen durcheinander, stürzten übereinander weg und jagten davon wie die Möwen. Was ich erlebte und was ich sah, worüber ich mit Juhls und den Kindern redete und was mir durch den Kopf ging, konnte ich in keinen zeitlichen Zusammenhang mehr bringen, und irgendwann gab ich es schließlich auf.
Ich sah den Ereignissen dabei zu, wie sie sich ereigneten. Einmal spätabends, als Cat und ihre Eltern schon schliefen und die drei anderen mit Carlo unten im Fernsehraum waren, lief ich allein durch den mit Bildern behängten Hotelflur und sah in jedes unbewohnte Zimmer, dessen Tür nicht abgeschlossen war. Und als ich endlich ein völlig leeres fand, schleppte ich meine Matratze dort hinein und holte das Bettzeug und die wenigen Sachen, die mir noch geblieben waren. Dann legte ich mich hin und las in einem Zug McCoy Lees Buch Nachrichten von Pegasus durch.
Einen Vormittag lang ging ich mit Jesse, Margo und dem Hund am Strand spazieren. Wir warfen Steine ins Meer, und jedes Mal rannte Carlo bis zur Wasserlinie hinunter und blieb abrupt stehen, indem er die Vorderpfoten in den Muschelkies stemmte. Lange sah er dann hinaus aufs Wasser und schien sich zu fragen, wohin der Stein verschwunden sein konnte.
»Schwimm! Schwimm doch!«, rief Margo ihm zu, aber Carlo ging nie ins Wasser. Jesse nahm Margo in den Arm.
Manchmal küsste er sie auf die Wange oder sie ihn.
Ein paar Stunden lang lag ich an einem Mittag auf meiner Matratze. Das Fenster stand offen, und ich zeichnete. Ich zeichnete, was mir in den Sinn kam, sogar das kleine Mädchen aus dem Grünen Heinrich . Ich zeichnete Meret aus der Erinnerung, dachte dabei an das Buch, das ich so liebte, und fühlte mich auch von ihm befreit. Ohne dafür aufzustehen, zeichnete ich im Liegen den Blick aus dem Fenster, einen
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