Nie Wirst Du Entkommen
von der North Shore.«
Er lächelte. »Tess, du bist auch reich.«
»Quatsch. Ich habe mein Auskommen. Eleanor war reich. Im nächsten Sommer läuft der Vertrag für meine Wohnung aus, und ich ziehe irgendwo in einen weniger schicken Stadtteil.«
Er sah sie wieder stirnrunzelnd an. »Wieso?«
»Tja. Eleanor bezahlte gern im Voraus. Sie hatte die Miete ihrer Wohnung schon für mehrere Jahre bezahlt, und als sie starb, hinterließ sie mir die verbleibenden Monate plus den Mercedes, der ebenfalls geleast ist. Am dreißigsten Juni, wenn es Mitternacht schlägt, verwandelt sich alles wieder in einen Kürbis.« Er sah überrascht aus, und das befriedigte sie. »Ich hab’s dir ja gesagt, ich bin gar kein Snob. Eher eine Hausbesetzerin. Eine anspruchsvolle, vielleicht.«
Er brach in lautes Gelächter aus. »Ja, okay, ich habe ja heute Abend gesehen, dass du kein verweichlichtes, reiches Töchterchen bist. Wie hast du dem Kerl eigentlich die Nase gebrochen? Er wollte es uns nicht sagen.«
Sie zeigte es ihm, indem sie die Handkante vorsichtig an seine Nase führte. »So.«
Er küsste ihr Handgelenk. »Hat Vito dir gezeigt, wie man das macht?«, murmelte er.
Sie zögerte. »Nein. Vito hat mir gezeigt, wie man eine Waffe benutzt.«
Er drückte die Lippen auf ihr Kinn. »Du weichst schon wieder aus.«
»Mein Vater hat es mir gezeigt«, sagte sie verärgert. »Wir wohnten in einer rauhen Gegend. Mein Vater erlaubte mir nicht, einen Freund zu haben, bis ich ein paar Grundlagen der Selbstverteidigung kannte. Obwohl kein Junge so dumm gewesen wäre, mich anzufassen. Nicht bei vier Brüdern.«
»Sind die alle so groß wie Vito?«
»Ungefähr.« Sie seufzte. »Sie fehlen mir. Sehr. Vito will, dass ich wieder zurückkomme. Für immer.« Sie sah, dass er die Stirn runzelte. »Mein Vater ist sehr krank. Ich will nicht, dass es mir etwas ausmacht, aber das tut es. Und als ich dich heute mit deiner Familie erlebt habe …« Sie schloss die Augen. »Ich habe meine Familie schon lange nicht mehr gesehen.«
»Wie lange?«
»Fünf Jahre.«
»Warum?«
»Wir haben uns auseinandergelebt.«
»Tess.«
Sie hob müde eine Schulter. »Mein Vater war immer sehr streng. Sehr katholisch und sehr streng. Wir mussten jeden Sonntag zur Messe. Abgesehen von der Sache mit dem Weihnachtsmann und der Zahnfee, war ich überzeugt, dass er mich niemals anlog.«
»Aber er tat es doch.«
»Er … hat meine Mutter belogen.«
»Ist er fremdgegangen?«
»Ja. Er und Mom kamen nach Chicago zu Besuch. Damals hatte ich Eleanors Wohnung noch nicht. Amy und ich teilten uns eine kleine Wohnung in der Nähe des Krankenhauses, in dem ich lernte, also gingen sie in ein Hotel. Dann wollten Mom und ich shoppen gehen.« Sie zog die Mundwinkel herunter. »Das haben wir immer unheimlich gern gemacht. Wir waren schon fast im ersten Laden, als Mom bemerkte, dass sie ihre Kreditkarte vergessen hatte, also ging ich zurück ins Hotel, um die Karte zu holen.«
»Und da war eine andere bei ihm.«
»So eine magere Tussi, die seine Tochter hätte sein können«, bestätigte sie bitter. »Ich habe an diesem Tag meine Kindheit verloren. Ich bin immer Daddys Mädchen gewesen. Jetzt weiß ich nicht mehr, wer der Mann ist. Er hat alles abgestritten und meinte, ich hätte das falsch interpretiert.«
»Kann das vielleicht stimmen?«
Tess presste die Lippen zusammen. »Sie war nackt und hing an ihm wie eine Klette. Ich fand das sehr eindeutig. Zuerst behielt ich es für mich, aber als ich es schließlich meiner Mutter sagte, glaubte sie ihm. Das hat eine echte Familienkrise ausgelöst. Dad war fuchsteufelswild, dass ich es verraten hatte. Er tobte und schrie und hatte einen Anfall. Einen echten Anfall.« Sie schluckte. »Ich dachte, er simuliert bloß und bin gegangen.«
»Aber er hat nicht simuliert.«
»Nein. Er hatte wirklich einen Herzanfall. Keinen schlimmen, aber es reichte, um sein Leben zu verändern. Und meins auch. Von nun an wollte er nicht mehr mit mir reden. Seine Tochter, die Ärztin, hatte ihm ihre Hilfe verweigert.«
»Klingt ziemlich dramatisch.«
Sie nickte. »Manchmal kann er das auch sein. Wie auch immer, Vito meint, dieses Mal ist es wirklich schlimm. Er muss sein Geschäft verkaufen. Er ist Kunsttischler. Einer der letzten großen Handwerker in Philadelphia. Er hat Möbel für die reichsten Familien der Stadt gefertigt. ›Blaues Blut‹ hat er sie immer genannt. Er fand es spaßig, dass sie ihm Tausende für ein Bücherregal bezahlten, obwohl sie
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