Nie Wirst Du Entkommen
»Sie hätte am Leben bleiben und gegen ihren Mann aussagen sollen.«
»So hättest du es gemacht«, sagte sie ruhig, und seine Augen blitzten auf.
»Ich hätte nicht zugelassen, dass irgendein Schwein meinen Sohn umbringt.«
»Nicht jeder ist stark, Aidan. Und nicht jeder tut, was im Grunde richtig wäre.« Sie küsste ihn zärtlich. »Es tut mir leid.«
Müde ließ er seinen Kopf wieder an ihre Schulter sinken. »Kennst du Sylvia Arness?«
Sie schüttelte den Kopf, als die Furcht sich erneut in ihren Eingeweiden breitmachte. »Nein.«
Er straffte den Rücken, nahm ihre Unterarme. »Nicht? Bist du sicher?«
»Ja.« Ihr Herz hämmerte nun so heftig, dass es wehtat. »Warum?«
Sein Griff wurde fester. »Afroamerikanerin, dreiundzwanzig Jahre alt?«
»Nein, Aidan. Sag mir doch, warum.«
»Weil sie tot ist. Howard und Brooks aus unserem Revier wurden gerufen, als ich gerade Morris’ Wohnung verließ. Sie riefen mich an, als sie die Botschaft an ihrem Mantel fanden.«
Ihre Kehle verschloss sich. »Du wirst beurteilt nach den Leuten, mit denen du verkehrst?«
»Ja. Und du bist wirklich sicher, dass du sie nicht kennst? Sylvia Arness war der Name auf ihrem Ausweis.«
Sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht handelt es sich um einen Nachahmer.«
»Kann sein. Könntest du mitkommen und einen Blick auf sie werfen, damit wir es sicher wissen?«
Hölzern nickte sie. »Natürlich. Ich muss nur meiner Familie sagen, dass ich gehe.«
Er blieb an der Tür stehen. »Dein Vater wird einen … Schrecken bekommen, wenn er dich so sieht.«
Herzanfall. Er hatte Herzanfall sagen wollen und sich gerade noch zurückhalten können. Sie richtete sich kerzengerade auf, schloss die Augen und konzentrierte sich. Als sie die Augen öffnete, nickte er. »Besser. Er wird zwar immer noch wissen, dass etwas nicht stimmt, aber er wird sich nicht mehr erschrecken.«
»Danke«, murmelte sie. »Ich habe nicht nachgedacht.«
»Das kann dir niemand verübeln.« Er drückte die Tür auf und begrüßte ihre wartende Familie mit einem müden Lächeln. »Tut mir leid, dass ich so lange auf mich habe warten lassen. Ich musste mich noch um einen anderen Fall kümmern.«
Tess betrat die Küche hinter ihm, begegnete Vitos Blick und sah, dass er verstand.
»Dad, es wird spät«, sagte er. »Lass uns zum Hotel zurückfahren.«
Michael setzte sich auf den Küchenstuhl und schob starrsinnig das Kinn vor. »Ich bin nicht blind und ganz bestimmt nicht blöd. Sag mir die Wahrheit, Tess.«
Sie drückte Aidans Hand. »Danke für den Versuch«, murmelte sie und sah ihren Vater an. »Dad, Aidan war tatsächlich mit einem anderen Fall beschäftigt. Aber als er gerade gehen wollte, ist eine andere Sache passiert, die vielleicht etwas mit mir zu tun hat, vielleicht aber auch nicht. Das müssen wir jetzt herausfinden. Bitte geh mit Vito. Du brauchst Ruhe. Ich rufe dich an, versprochen.«
Michael stand langsam auf. »Und Sie lassen sie nicht aus den Augen, Reagan?«
Aidan schüttelte den Kopf. »Ganz bestimmt nicht.«
Donnerstag, 16. März, 23.20 Uhr
Spinnelli und Murphy trafen sie am Leichenschauhaus.
»Wenn das ein Trittbrettfahrer ist, kann die Sache ziemlich übel werden«, grummelte Murphy. »Wir haben es bisher aus der Presse raushalten können, aber jetzt geht das nicht mehr. Eine Menge Leute haben Arness und die Botschaft gesehen.«
Tess’ Körper neben Aidan war steif. »Bringen wir es hinter uns.«
Johnson wartete neben dem Metalltisch, auf dem eine Gestalt unter einem Laken lag. »Sie ist um einundzwanzig Uhr fünfzehn erschossen worden. Die Kugel hatte ein schweres Kaliber, wahrscheinlich fünfundvierzig. Sie ist durch den Rücken direkt ins Herz eingedrungen und vorne wieder ausgetreten.« Seine Miene war sanft. »Wenn sie Schmerzen gehabt hat, dann höchstens eine Minute.«
»Aber sie muss sich in dieser Minute gefürchtet haben«, murmelte Tess und starrte auf die verhüllte Gestalt. Aidan wusste, dass sie nun bei der Frau im Augenblick ihres Todes war. Das war es, was sie tat. Sie drang in den Kopf ihrer Patienten ein und erlebte ihre Furcht. Weil es ihr etwas bedeutete. Es war seltsam, dies in Gegenwart einer Leiche zu erkennen.
»Der Schuss hat die Menge aufgescheucht. Die Leute liefen weg. Alles eine große Verwirrung, also hat natürlich niemand etwas gesehen«, sagte Aidan. »Die Spurensicherung ist noch am Tatort.«
»Moment.« Murphy hielt eine Hand hoch. »Rivera wurde mit einer Zweiundzwanziger erschossen und, laut
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