Nie Wirst Du Entkommen
blickte aus dem Fenster, das ihr Chicago zu Füßen legte. Es war wirklich interessant. Wenn man nur hoch genug oben wohnte, vergaß man, dass man nicht nur wunderbar hinausblicken, sondern auch mit Leichtigkeit gesehen werden konnte. Es war so unglaublich einfach. Und im Augenblick ziemlich langweilig.
Sie saß also nicht im Knast. Obwohl das enttäuschend war, war es auch zu erwarten gewesen. Noch gab es genug Leute, die etwas auf sie hielten, und die Beweise allein reichten nicht aus. Welches Motiv sollte sie haben? Eine bekannte, geschätzte Psychiaterin, die einen guten Ruf zu verlieren hatte … Ein leises Lachen unterbrach die Stille. Morgen um die gleiche Zeit würde die Polizei noch mehr Beweise finden, die auf die geschätzte Psychiaterin hindeuteten, und einige ihrer treuen Verteidiger würden die Sache überdenken müssen.
Aber all das war noch nicht genug. Es würde mehr geschehen. Es sollte mehr geschehen. Das Spiel war noch lange nicht beendet.
Ein Tastendruck auf die Kurzwahl ließ Nicoles Telefon klingeln, und als braves Mädchen, das sie war, ging sie sofort dran.
»Was?« Es klang heiser.
»Was zum Teufel hast du mit deiner Stimme gemacht?« Musste man nicht erwarten, dass eine Schauspielerin pfleglich mit ihrer Stimme umging? Es hörte sich an, als habe Nicole geweint. Eine schwache Frau. Man musste sie im Auge behalten. Vielleicht war ein zweiter Besuch bei ihrem kleinen Bruder nötig, um sich ihrer Mitarbeit zu vergewissern. »Hoffen wir, dass du noch vernünftig spielen kannst.«
Nicole räusperte sich. »Schon gut. Alles in Ordnung.«
»Das sollte es auch sein. Ich habe verdammt viel Zeit und Geld in deine Stimme investiert, Nicole. Vergiss nicht, dass die Unversehrtheit deines Bruders von dir allein abhängt.«
»Was wollen Sie?«, fragte Nicole gepresst.
»Komm um elf an die Michigan, Ecke Eighth. Und bring die Perücke mit.«
Es entstand eine Pause, dann sprach Nicole wieder, diesmal furchtsam und mit erstickter Stimme. »Aber Sie sagten, erst in ein paar Tagen.«
»Ich habe meine Pläne geändert. Um elf.«
Wir werden jemandem einen Besuch abstatten, du und ich. Mr. Avery Winslow.
Winslows Gesicht mit den traurigen, hängenden Basset-Augen starrte dem Betrachter vom obersten Foto des Stapels entgegen. Das Gesicht von Avery junior lag direkt darunter. Der arme Mr. Winslow – so früh seinen Sohn zu verlieren. Dass ein Vater sich dafür schuldig fühlte, war nur allzu verständlich. Dass er professionelle Hilfe suchte, vernünftig. Dass die professionelle Hilfe von Tess Ciccotelli kam, sein Verhängnis.
Avery Winslow schmorte seit drei Wochen im eigenen Saft. Seine Wohnung war präpariert. Es war Zeit für den zweiten Akt.
Armer Mr. Winslow. Es war wirklich nichts Persönliches. Jedenfalls nichts, was mit ihm zu tun hatte. Aber Cicco-telli … das war etwas anderes. Bei ihr war es persönlich.
Bald würde sie tot sein. Aber vorher hatte sie noch einiges vor sich.
Sonntag, 12. März, 23.30 Uhr
Zu spät. Zu spät. Zu spät.
Diese Worte klangen wie ein Singsang in Tess’ Kopf, während sie sich durch die Menge drängte. Sie konnte nichts sehen. Konnte an all den Männern nicht vorbeisehen. Große Männer, dunkles Haar. Alle wütend.
Wütend auf mich.
Sie drängte sich an dem Letzten vorbei und blieb stehen. Zu ihren Füßen lag Cynthia Adams. Tot. Zu spät. Einer der Männer bückte sich und holte Cynthias Herz aus ihrem aufgerissenen Brustkorb. Er hielt es ihr hin, und es schlug noch.
»Nimm es«, befahl er. Die blauen Augen leuchteten in der Nacht.
»Nein, nein.« Sie wich zurück. Das Herz zuckte, Blut rann durch seine Finger und tropfte auf Cynthias blasses Gesicht. Ihre Augen öffneten sich und starrten sie an. Tot und leer.
Sie wirbelte herum und spürte den Schrei in ihrer Kehle aufsteigen. Und erstarrte. Polizei. Sie wollen mich holen. Uniformen, so weit sie blicken konnte. Anklagende Blicke.
Lauf weg. Wach auf. Verdammt, wach auf und hau ab.
»Tess, verflixt noch mal. Tess, wach auf!«
Sie hörte einen Schrei, einen schrillen, entsetzten Schrei. Erkannte, dass er aus ihrer eigenen Kehle stammte. Tess riss den Kopf von der Tischplatte hoch und starrte mit weit aufgerissenen Augen ins Leere. Ihre Sicht war verschwommen, doch langsam erschien ein Gesicht in ihrem Blickfeld. Vertraut. Braune Augen, strohblondes, kurzes Haar. Finger zogen die Kopfhörer aus ihren Ohren. Kräftige Hände auf ihrem Gesicht. Lebendig und warm.
Jon.
Jon war hier. Alles war in
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