Nie Wirst Du Entkommen
er aus der Küche mitgenommen hatte. »Mehr, bitte.«
Er schenkte ihr Glas Nummer vier ein. »Stehst du unter Anklage?«
»Noch nicht. Du solltest in der Stadt bleiben. Ich brauche dich vielleicht als Leumundszeugen.«
Er zog die Stirn in Falten. »Das ist nicht wirklich komisch, Tess.«
Sie neigte den Kopf. »Ich hab’s auch ernst gemeint. Ich stecke in ernsten Schwierigkeiten.« Sie deutete auf den Stapel Kassetten neben ihrem Rekorder. »Und ich finde nirgendwo irgendeinen Hinweis. Cynthia hat in unseren Sitzungen niemand Besonderen erwähnt. Fünf Stunden Aufnahmen, aber ich finde nichts. Ich habe jedes einzelne Wort aufgeschrieben.«
Jon atmete nachdenklich ein. »Und nun?«
Tess zuckte die Achseln. »Zuerst muss ich den Wein austrinken. Dann muss ich schlafen. Wirklich schlafen. Ich hoffe, der Alkohol wird mich so betäuben, dass ich diesen blöden Traum nicht mehr träume. Morgen bringe ich die Abschriften zu Reagan. Und wenn er nicht über Nacht noch etwas gefunden hat, weswegen er mich festnageln kann, fahre ich ins Krankenhaus und erledige meine Arbeit.« Sie zuckte wieder die Achseln. »Was danach kommt – keine Ahnung.«
»Bist du sicher, dass du das machen willst?«
Sie zog einen Mundwinkel hoch und tippte mit einem Fingernagel gegen die fast leere Flasche. Sie fühlte sich angenehm benebelt. »Habe ich schon. Vier Gläser.«
»Tess.« Jon warf ihr einen warnenden Blick zu. »Ich meine, ob du es für klug hältst, diesem Detective freiwillig die Informationen zu überlassen. Vielleicht ist er einer von denen, durch die du deinen Vertrag verloren hast.«
»Könnte sein. Ist sogar wahrscheinlich. Dennoch sind er und Murphy meine einzige Chance, aus dieser Sache rauszukommen. Wenn sie Murks machen, geh ich eine Etage höher. Spinnelli mag mich immer noch. Im Augenblick aber arbeite ich mit den beiden zusammen.« Sie legte den Kopf zurück auf die Stuhllehne und schloss die Augen. »Jon, jemand hat Cynthia Adams umgebracht, auch wenn er sie nicht eigenhändig vom Balkon geschubst hat. Wenn ich Reagan dabei helfe, den Schuldigen zu finden, helfe ich mir, aus diesem Mist herauszukommen und mein normales Leben wieder aufzunehmen.« Sie kam mühsam auf die Beine, diesmal dankbar für seine Unterstützung. »Und jetzt lege ich mich besser hin.« Mit schweren Schritten wankte sie – auf ihn gestützt – ins Schlafzimmer.
Sie kicherte, als er sie aufs Bett drückte und ihr die Socken auszog. Sie verschränkte die Arme hinterm Kopf und grinste zu ihm auf. Er war ein attraktiver Mann, und sie hatte schon häufig geflüsterte Andeutungen in Bezug auf seine geschickten Hände außerhalb der OP gehört. Aber sie und Jon waren nur Freunde. Zwischen ihnen sprang der Funke einfach nicht über. Nach Amy war er ihr bester Freund, und er war liiert und absolut treu. Dennoch konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, ihn ein bisschen zu necken. »Es ist lange her, dass ein Mann in meinem Schlafzimmer gewesen ist, Jon. Sicher, dass du nicht bleiben willst?«
Er lächelte auf sie herab. »Sehr verlockendes Angebot, Tess, aber was würde Robin dazu sagen?«
Sie schloss die Augen. »Dass du dir keine Sorgen zu machen brauchst. Du bist sicher vor meinen gierigen Klauen.« Sie kicherte wieder und fühlte sich warm und duselig genug, um einzuschlafen. »Sag Robin, dass ich meine Hände bei mir behalten habe.« Sie schmiegte sich ins Kissen und seufzte, als er ihr das Haar aus dem Gesicht strich. »Und allein eingeschlafen bin. Mal wieder.«
Jons Hand verharrte zögernd. »Tess.«
Sie öffnete ein Auge. Seine Miene wirkte gequält, und plötzlich wurde ihr ganzer Körper von einer Welle der Sehnsucht erfasst.
Der blöde Wein,
entschied sie.
Über diesen elenden Mistkerl bin ich längst hinweg.
Schließlich schlief sie in diesem Bett seit über einem Jahr ohne Phillip Parks. Sie vermisste ihn nicht. Von ihr aus konnte er in der Hölle schmoren. Aber sie vermisste durchaus … einen Menschen, der bei ihr war. Sie schüttelte sich ein wenig, so dass das Bett zu schwanken begann. Morgen war genug Zeit für eine Selbstanalyse.
Besonders, wenn Reagan es tatsächlich schafft, mich zu verhaften.
»Alles okay, Jon. Geh nach Hause zu Robin. Mach nur die Tür zu und lass Bella nicht raus.« Als habe sie auf ihr Stichwort gewartet, sprang Tess’ Schildpattkatze aufs Bett und rollte sich laut schnurrend neben ihrem Kopf zusammen.
»Ruf mich morgen an, okay, Tess?«
Sie spürte den gnädigen Schlaf kommen. Wunderbar.
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