Nie Wirst Du Entkommen
gesehen, aber der Anrufer war unbekannt. Sie können gern die Liste von meinem Privatanschluss überprüfen. Es klang nach einem Handy, es hat ziemlich geknistert. Angerufen hat eine Frau, noch jung.«
»Wie jung?«
»Nicht mehr jugendlich, aber unter dreißig, würde ich sagen. Sie meldete sich nicht mit Namen, sondern meinte nur, sie sei eine Nachbarin von Cynthia. Ich müsse kommen, weil Cynthia zu springen drohe.«
Aidan sah stirnrunzelnd auf seine Notizen. »Sie sagte, Adams drohe zu springen?«
»Ich glaube, dass waren ihre exakten Worte, ja. Warum?«
»Weil ich Zeugen habe, die behaupten, dass sie mit niemandem gesprochen hat. Sie sei einfach zur Balkonbrüstung gegangen, habe sich oben umgedreht und sich dann fallen lassen.«
Ciccotellis Gesicht verhärtete sich beinahe unmerklich. Wenn er sie nicht so genau beobachtet hätte, wäre es ihm entgangen. In der Nacht zum Sonntag
war
es ihm entgangen. Er war aus zu vielen Gründen zu wütend gewesen und hatte angenommen, dass ihr ausdrucksloses Gesicht für ihre Gefühllosigkeit stand. Er hätte es besser wissen müssen, als jemanden nach seinen äußeren Reaktionen zu beurteilen. Zum Teufel, er
wusste
es besser. Trotzdem gab es da noch die Beweise, die sie nicht ignorieren konnten. »Können Sie sich vorstellen, wie Ihre Fingerabdrücke in die Wohnung kommen, Doktor?«
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Ich habe mir schon den Kopf darüber zerbrochen, wie das möglich sein kann.« Sie blickte auf ihre Armbanduhr. »Ich muss jetzt los, Detective. Hier ist meine Karte. Ich habe meine Handynummer auf der Rückseite notiert, aber ich habe das Handy im Krankenhaus nicht an. Falls Sie heute noch mit mir reden müssen, wird meine Sekretärin mich erreichen.« Sie stand auf und zupfte ein wenig an dem roten Schal um ihren Hals. Sie zögerte, dann sah sie ihn noch einmal direkt an. »Ich wollte nicht auf Ihrem Tisch herumschnüffeln, Detective, aber ich habe den gerichtsmedizinischen Bericht gesehen, den Sie gelesen haben, als ich eben zu Ihnen kam. Den von dem kleinen Jungen.«
Seine Augen verengten sich. Er spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg. »Das geht Sie nichts an, Doktor.«
»Ich weiß. Ich wollte nur sagen … es tut mir leid. Sie müssen sich in Ihrem Beruf sehr viel ansehen. Ich kann mir vorstellen, dass es Sie wütend macht, wenn es sich um Dinge handelt, die man am liebsten nicht sehen will.«
Nun sprach sie
ihn
von der Verantwortung frei! Was für eine Ironie. »Sie sehen auch viel.«
Ihr Lächeln war traurig und auch ein wenig verbittert. »Aber nicht dasselbe wie Sie. Keine kleinen Kinder. Ich habe einmal versucht, mit missbrauchten Kindern zu arbeiten, als ich in meinem Beruf anfing. Aber es ging nicht.« Sie neigte den Kopf, ohne den Blick von ihm zu lösen. »Das überrascht Sie.«
Dass er so leicht zu durchschauen war, ärgerte ihn mehr als nur ein bisschen. »Ein wenig, ja.«
»Sie trauen Psychiatern nicht.«
»Sie haben Ihre Funktion, Doktor, ich habe meine.«
Ihre Lippen verzogen sich zu einem kleinen Lächeln. »Was bedeutet, hau ab und kümmere dich um kranke Menschen, aber halt dich aus meinen Angelegenheiten raus. Sie haben recht, Detective.« Sie zog ihren braunen Mantel über, während er ihr zusah. Es juckte ihm in den Fingern, ihr zu helfen, doch sein Gehirn schnauzte ihn an, er solle sich zurückhalten. »Ich kontaktiere Sie, wenn mir noch etwas einfällt. Werden Sie mich wissen lassen, falls meine Fingerabdrücke noch irgendwo auftauchen?«
Er lächelte, obwohl er es nicht wollte. »Mach ich. Danke, dass Sie gekommen sind. Und … meine Schwägerin lässt Sie grüßen.«
Sie nickte. »Kristen ist eine gute Freundin. Grüßen Sie sie bitte zurück.« Sie ging auf die Tür zu, die zur Treppe führte, und blieb stehen. Dort stand Murphy, die Hände in den Hosentaschen, die Brauen finster zusammengezogen.
»Tess. Ich hatte nicht erwartet, Sie hier zu sehen.«
»Ich hatte auch nicht vorgehabt, hinaufzukommen.« Sie schob sich an ihm vorbei, und Murphy drehte sich mit ihr um und packte ihren Arm.
»Es tut mir leid, Tess. Ich hätte nie auch nur daran denken dürfen.«
Selbst quer durch den Raum konnte Aidan die plötzliche Kälte spüren, als sie ihre Abwehr hochfuhr und sich hinter ihrer vermeintlichen Gefühllosigkeit verschanzte. Wieder sah er die Frau im Gerichtssaal vor sich, wie sie mit ruhiger Stimme eine Aussage machte, die den Killer vor der Verurteilung rettete. Behutsam drehte sie ihren Arm, bis
Weitere Kostenlose Bücher