Nie Wirst Du Entkommen
Ich tue, was ich kann, um Ihnen zu helfen.« Steif setzte sie sich wieder in Bewegung und war eine weitere halbe Etage weit gekommen, bis er sie links überholte. Er blieb auf dem Absatz stehen und versperrte ihr den Weg. Tess stoppte auf der untersten Stufe. Ihre Knie zitterten.
Er kann dich nicht verhaften,
sagte sie sich.
Du hast nichts getan.
Aber sie wusste, dass er es durchaus konnte, wenn er wollte, und dann gäbe es nichts, was sie dagegen unternehmen könnte. »Tut mir leid, Detective.« Ihre Stimme war brüchig, und sie verfluchte ihre jämmerliche Angst. Hier sollte es um Cynthia und Avery gehen, aber sie war pragmatisch genug, um sich einzugestehen, dass dem nicht so war. Hier ging es um sie. »Sie haben den ganzen Nachmittag versucht, mich zu erreichen. Was haben Sie herausgefunden?«
Er stand so dicht vor ihr, dass sie sein Seufzen an der Wange spüren konnte. Er war stark und groß, sein Blick scharf und zornig, doch sie hatte Mitgefühl darin gelesen. Für Cynthia. Für Avery. Und einen Moment lang erlaubte sie sich darüber nachzudenken, wie es wohl sein würde, von ihm beschützt statt angeklagt zu werden. Doch der Moment war schnell vorüber.
»Wir haben drei Blumengeschäfte ausfindig gemacht, die am Samstag einer jungen Frau Lilien verkauft haben«, sagte er grimmig. »Sie hat mit Kreditkarte bezahlt.«
Tess musste nicht erst fragen. Sie wusste es. Sie nahm all ihren Mut zusammen und schaute zu ihm auf. Seine Augen blickten ernst, aber nicht anklagend. »Mit meiner«, sagte sie tonlos.
Er nickte.
Sie presste die Lippen zusammen. »Ich habe das alles nicht getan, Detective. Nichts davon.« Sie blickte zur Seite. »Natürlich erwarte ich nicht, dass Sie mir glauben.«
»Ich habe auch nicht erwartet, Ihnen zu glauben.«
Verdattert wandte sie den Kopf und sah ihm wieder in die Augen. Er lächelte nicht, und ihr Puls begann einmal mehr zu jagen. »Sie glauben mir?«
Seine Brauen zogen sich zusammen, als ob ihm selbst vollkommen unverständlich war, wieso er zu einem solchen Schluss hatte kommen können. »Ja.«
»Dann …« Sie fürchtete sich beinahe, die Worte auszusprechen. »Dann werden Sie mich nicht verhaften?«
»Nein.« Er packte das Ende des Geländers und trat auf dem Absatz einen Schritt zurück. Sein Blick war besorgt. »Aber ich muss herausfinden, warum es hier um Sie geht.«
»Ich weiß nicht. Ich dachte bisher, ich sei nur ein Werkzeug, ein Mittel. Aber das stimmt nicht.«
»Mir ist heute Morgen schon der Gedanke gekommen, dass Sie das Ziel sein könnten. Aber bis eben war ich mir nicht sicher.«
Sie neigte den Kopf. »Wieso heute Morgen? Was hat sich geändert?«
Er sah einen Moment lang zur Seite. Als er sie wieder anblickte, las sie kleinlaute Beschämung in seinen Augen. »Gestern Nachmittag habe ich eine Liste der Fälle angefordert, in denen Sie auf der Seite der Staatsanwaltschaft ausgesagt haben. Es gibt eine Menge davon und dadurch auch eine Menge Leute, die Sie sicher gerne am Boden sehen würden. Ich muss Sie um Verzeihung bitten, Dr. Ciccotelli. Ich habe mich geirrt.«
Dass er ihren Titel ausgesprochen hatte, errichtete erneut eine Mauer zwischen ihnen. Dennoch war ihr die Formalität zehnmal lieber als eine Anklage. »Danke.«
»Wir müssen überlegen, was wir nun unternehmen.« Er sah auf seine Uhr. »Ich bin schon zu lange hier unten. Ich muss meine Arbeit erledigen. Kommen Sie, wir gehen hoch, und Sie nehmen den Fahrstuhl.«
Tess schüttelte den Kopf. Allein der Gedanke an den Aufzug verursachte ihr Übelkeit. »Schon gut. Ich nehme die Treppe.«
Sein Blick besagte, dass er sie für verrückt hielt. »Wir sind im neunten Stock.«
Neun Stockwerke oder neunzehn, das machte nichts aus. Tess nahm nur Fahrstühle, wenn es absolut unvermeidlich war. Und das war höchstens dann der Fall, wenn sie über zwanzig Etagen hinauf musste. In ihrem momentanen Zustand mochte sie sich noch nicht einmal vorstellen, in einer kleinen Kiste gefangen zu sein. »Ich bin eineinhalb Etagen gelaufen, also sind es jetzt nur noch knapp über sieben. Gehen Sie hinauf und erledigen Sie Ihren Job, Detective. Das ist das mindeste, was wir für Avery Winslow tun können. Ich schaffe das schon. Rufen Sie mich an, wenn Sie Zeit zum Reden haben. Ich setze mich noch einmal an meine Unterlagen zu den Gutachten, die ich für die Staatsanwaltschaft erstellt habe. Vielleicht fällt mir irgendetwas ein.« Sie sah zu Boden, dann wieder in seine Augen. »Danke, dass Sie mir glauben,
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