Nie Wirst Du Entkommen
hat.« Wieder musste sie schlucken. »Nach diesem Tag hörte er ständig diese Musik in seinem Kopf. Das und das Weinen eines Kindes. Er konnte nicht mehr schlafen, nicht mehr arbeiten. Er verlor seinen Job und seine Frau. Seine Schuldgefühle haben ihn vernichtet.«
»Aber jemand hat ihn dabei kräftig unterstützt«, sagte Aidan, und sie nickte hölzern.
»Ja.«
Murphy klappte den Deckel der CD wieder zu und gab sie Jack. »Eintüten, bitte.«
»Detectives.« Johnson rollte die Leiche auf die Seite, so dass ein Farbfoto sichtbar wurde, eine Vergrößerung auf Hochglanzpapier. Und weit schrecklicher als Melanie, die an einer Schlinge baumelte. Aidan drehte sich der Magen um, und er hätte seinen Blick gerne abgewendet, aber er konnte nicht. Ein Kleinkind in einem blauen Strampler saß angeschnallt auf einem Autokindersitz, das Gesicht rot und aufgedunsen, die Züge fast nicht mehr erkennbar.
Mit steifen Bewegungen trat Tess Ciccotelli neben Aidan und schaute auf das Foto. »Das ist sein Sohn.« Ihre Stimme war heiser und zitterte nun vor Zorn. »So hat ihn die Polizei an jenem Tag gefunden.« Sie schloss die Augen, und ihre Lippen verzogen sich voller Bitterkeit. »Wissen Sie, was Ironie ist? Wer immer ihm das Foto geschickt hat, hätte sich die Mühe nicht machen müssen. Avery Winslow hat genau dieses Bild jedes Mal gesehen, wenn er die Augen zugemacht hat.«
Ein paar Herzschläge lang sagte niemand ein Wort. Dann stieß Murphy geräuschvoll den Atem aus. »Hier liegt ein Umschlag auf dem Tisch. Gleiche Größe wie das Foto.« Mit einer Grimasse packte er ihn an der einen Ecke, die nicht mit Blut und Gehirn beschmiert war. Und stieß einen Pfiff aus, als er den Absender sah. »›Dr. T. Ciccotelli, MD .‹ Mit Prägung, Tess. Der kommt aus Ihrem Büro.«
Ihr Mund öffnete sich, der Körper erstarrte. Ihr entsetzter Blick hastete vom Umschlag zum Foto und zurück zu Winslows Leiche, neben der sie stand. In ihren Augen tobte ein Sturm. »Verzeihen Sie. Ich muss hier raus.« Sie machte auf dem Absatz kehrt und rannte zur Tür.
Murphy setzte sich in Bewegung, aber Aidan schüttelte den Kopf und streifte die Handschuhe ab. »Ich gehe.« Sie bewegte sich auf das Treppenhaus zu. »Dr. Ciccotelli. Warten Sie.« Doch sie ging weiter, ohne sich umzudrehen. Dann war sie auf der Treppe, und er sah ihren Kopf eine halbe Etage unter sich verschwinden. »Doktor, stopp!« Sie zögerte für einen Bruchteil einer Sekunde, beschleunigte dann aber ihren Schritt und packte das Geländer fester, als sie um die Ecke bog, um die nächste Etage hinunterzurasen.
Tess floh. Die Stufen unter ihren Füßen verschwammen. Reagan verfolgte sie immer noch, und seine Schritte kamen näher. Doch sie konnte nicht stehen bleiben, konnte nicht atmen. Sie brauchte nur eine Minute. Eine Minute, um sich zu fassen, zu Atem zu kommen.
Das Foto … lieber Gott. Wer kann so was tun? Wer kann nur so grausam sein?
Das Bild … diese obszöne Scheußlichkeit hatte in ihrem Umschlag gesteckt.
Mit meinem Namen als Absender darauf.
Avery hatte den Umschlag geöffnet, weil er ihr vertraut hatte. Ihre Kehle verschloss sich. Was musste er gedacht … gefühlt haben?
Die Qual, seinen Sohn noch einmal so zu sehen … und zu glauben, dass ich ihm das Bild geschickt habe!
Dann hatte er den Lauf der Waffe in den Mund genommen und abgedrückt.
Er war tot. Avery war tot. Aber so schlimm das war, die Realität bot noch viel Schlimmeres. Vor nur einer knappen Stunde hatte sie sich noch selbst davon überzeugen können, dass sie keine Schuld hatte, dass sie nur ein Werkzeug für jemanden gewesen war, der Cynthia Adams hatte umbringen wollen.
Jetzt wusste sie, dass das nicht stimmte. Jetzt wusste sie, dass Cynthia und Avery die Werkzeuge gewesen waren. Das wahre Ziel …
bin ich.
Zwei Unschuldige hatten sterben müssen.
Wegen mir.
Sie atmete schluchzend ein und blieb abrupt stehen, die Hand noch am Geländer, als ihr die Knie nachgaben. Sie ließ sich behutsam auf eine Stufe nieder und rang verzweifelt nach Luft.
Der Klang von Reagans Schritten wurde lauter, dann verharrten sie. Er war direkt hinter ihr. Nun war nichts mehr im Treppenhaus zu hören, als ihre verzweifelten Atemzüge.
»Tess«, sagte er. Nichts mehr. Nur das.
Aber die einzige Silbe schien zwischen ihnen zu schweben und zu pulsieren, als habe sie ein Eigenleben. Sie starrte an die Wand gegenüber. »Ich werde die Stadt nicht verlassen«, sagte sie und stand auf. »Sie haben mein Wort.
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